Projekt

Interdisziplinäre Judaistik

Reist mehrmals im Jahr beruflich nach Jerusalem: Christian Wiese Foto: Christoph Boeckheler

Sein Büro ist ein Logenplatz. Hier oben, im sechsten und höchsten Stockwerk, bietet sich Christian Wiese ein Panoramablick auf die Frankfurter Skyline. »Ein toller Ausblick«, freut sich der 51-Jährige – auch wenn er nicht unbedingt viel Zeit hat, aus dem Fenster zu schauen. Christian Wiese ist Professor für jüdische Religionsphilosophie. Seit Oktober 2010 hat er an der Frankfurter Goethe-Universität die Martin-Buber-Professur am Fachbereich Evangelische Theologie inne. Früher waren das zumeist zeitlich begrenzte Gastprofessuren, heute wird der Lehrstuhl dauerhaft von der Universität und dem Land Hessen finanziert.

Eine deutschlandweit einzigartige Professur an einem zudem geschichtsträchtigen Ort. Wieses Büro liegt im IG-Farben-Gebäude auf dem Campus Westend. Ein Hochschulstandort, der früher Firmensitz des Chemiekonzerns war und der wie kaum ein anderer mit Auschwitz, Zwangsarbeit und dem Massenmord durch Zyklon B verbunden ist. Die Geschichte des IG-Farben-Hauses spiele für ihn eine große Rolle, sagt Wiese. Er empfinde – ähnlich wie viele seiner internationalen Besucher – eine Mischung aus »Beklemmung und Faszination«.

Der Forscher thematisiert in seinen Vorlesungen mit dem Titel »Das Denken nach Auschwitz« den Umgang mit Geschichte und Erinnerung. Die Historie des Ortes sei daher stets präsent, »sie überschattet aber nicht meine Arbeit«, sagt Wiese. Seinen Studenten soll jedoch bewusst sein, wo sie studieren.

International Die Martin-Buber-Professur will der Wissenschaftler allerdings nicht auf die Thematik der Schoa begrenzt wissen. Jüdische Geschichte und Religion begreift er nicht allein als »Opfergeschichte«. Ihm geht es auch um die Zeit vor und nach dem Holocaust. Er will jüdisches Denken in Europa und Amerika vom 18. Jahrhundert bis heute beleuchten, will vergessene jüdische Wissenschaftler und Philosophen wieder ans Tageslicht holen, Frankfurt zu einem Zentrum für Jüdische Studien machen.

Derzeit etwa arbeitet Wiese an einem Projekt zusammen mit der Thyssen-Stiftung und der Ben-Gurion-Universität im israelischen Beer Sheva zum Thema jüdische Mystik. Das Forschungsprojekt ist auf zwei Jahre angelegt, und der Frankfurter Wissenschaftler hofft auf eine Verlängerung um ein Jahr. Ende 2013 ist eine große internationale Konferenz an der Goethe-Universität dazu geplant.

Wiese, der zuvor im englischen Sussex das universitäre Zentrum für deutsch-jüdische Studien leitete, hat seine Tätigkeit am Frankfurter Lehrstuhl sehr international angelegt. Er kooperiert mit Partnerunis in Kanada, den USA und Israel. Aber auch innerhalb des Campus geht es interdisziplinär zu. Wiese arbeitet mit Judaisten, Historikern, Philosophen, anderen Religionswissenschaftlern und auch den Kollegen und Studenten der Islamstudien zusammen. »Interreligiöse Begegnungen sind belebend und bereichernd«, findet er.

Exzellenz Zu Beginn seiner Professur, im ersten Semester, saßen teilweise nur drei Studenten in seinen Kursen. Heute sind seine Vorlesungen und Seminare voll. Die gesicherte Finanzierung eines dauerhaften Lehrstuhls, sagt Wiese, gebe ihm jetzt die »Chance, etwas aufzubauen, das Bestand hat«. In die Exzellenzinitiative des Landes Hessen hat der Hochschullehrer eine Bewerbung für ein »Zentrum für jüdische Studien« eingebracht.

Um vier bis fünf Millionen Euro Fördermittel geht es dabei und um eine groß angelegte Kooperation unter anderem mit den Judaisten der Hochschule, dem Fritz-Bauer-Institut für Holocaust-Forschung, dem Jüdischen Museum Frankfurt und der Judaica-Sammlung der Universitätsbibliothek. »Im Juni entscheidet sich, ob wir einen Vollantrag stellen dürfen«, sagt er.

Wiese ist Wissenschaftler aus Leidenschaft. Derzeit absolviert er ein Forschungssemester, schreibt Biografien, etwa über jüdische Historiker wie Robert Welsch oder den Philosophen Hans Jonas. Dafür besucht er Nachfahren oder Archive in Jerusalem und New York, geht ganz in seiner akademischen Spurensuche auf. Dabei wollte er ursprünglich einmal evangelischer Pfarrer werden, kam eigentlich auf Umwegen zum Judaismus.

In Bonn geboren, verbrachte der Sohn eines deutschen Diplomaten seine Kindheit in Chile. Wiese erlebte als Jugendlicher den Putsch gegen Allende und die Pinochet-Diktatur. Mit 16 Jahren kam er zurück nach Deutschland. Bis dahin waren Zweiter Weltkrieg, Antisemitismus und Holocaust kein Thema gewesen. Er musste sich erst einmal mit der deutschen Geschichte auseinandersetzen.

Distanz Wiese entschied sich, evangelische Theologie in Tübingen und Bonn zu studieren und Pfarrer zu werden, absolvierte sein Vikariat und arbeitete in der Krankenhausseelsorge. Kirchenhistorie interessierte ihn, die Geschichte der Kirche in Nazideutschland besonders. »Doch da entstand eigentlich schon Distanz«, erinnert er sich. Die Arbeit als Pfarrer erschien dem Vielgereisten plötzlich als zu konventionell. Wiese entschied sich neu – für ein Judaistikstudium in Jerusalem und die wissenschaftliche Arbeit in der Antisemitismusforschung.

Seither fühlt er sich der Stadt Frankfurt verbunden, hat dort viele Freunde und reist mehrmals im Jahr privat und beruflich nach Jerusalem. Dass er kein Jude ist, sagt Wiese, spielt in Israel unter Wissenschaftskollegen kaum eine Rolle. Er hat die Erfahrung gemacht, dass »das eher in den USA und Deutschland ein Thema ist«. Und es war ein Grund, warum er vor einigen Jahren eine Forscherstelle in den USA, für die er sich beworben hatte, nicht bekommen hat. Das sei aber eine Ausnahme. »Grundsätzlich wird meine Arbeit, nicht die Religionszugehörigkeit, wahrgenommen«, sagt er.

Eines seiner nächsten großen Projekte ist die europäische Geschichte der Wissenschaft des Judentums im 19. und 20. Jahrhundert. Gemeint ist nicht nur die Auseinandersetzung mit religiösen Inhalten, sondern auch Begegnungen mit Naturwissenschaften, Philosophie, Kunst, gesellschaftlichen Themen. Der Forscher will einen Blick werfen auf die lange Tradition und die damaligen Verbindungen zwischen Deutschland, Ungarn, Österreich, England, Italien oder Polen. »Da gab es ein riesiges Netzwerk«, weiß er – aber bis heute keinen wissenschaftlich erforschten Gesamtüberblick dazu. Genau das Richtige also für Wiese.

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