Ideologie

Im Fieberwahn

Zu heiß für die Einreise: Fiebermessen an der deutsch-polnischen Grenze zwischen Görlitz und Zgorzelec Foto: imago images/photothek

Eigentlich konnte man die Uhr danach stellen. Als zu Beginn des Jahres erstmals über eine rätselhafte Krankheit in China berichtet wurde, kursierten sofort auch schon die ersten Theorien und Gerüchte darüber, wer wohl dahinterstecken mag.

So hieß es im Januar, dass das Coronavirus irgendwie seinen Weg aus einem chinesischen Forschungslabor gefunden habe, ob durch Zufall oder Absicht, das sei noch nicht klar. Die britische »Daily Mail« vermutete das Wuhan National Biosafety Laboratory als Urheber – schließlich sei es mit der Sicherheit dort nicht unbedingt zum Besten bestellt.

biowaffenprogramm Daraufhin griff die »Washington Times« das Thema auf und zitierte einen ehemaligen israelischen Geheimdienstmann namens Dany Shoham, der erklärte, dass das Virus wohl im Zusammenhang mit dem Biowaffenprogramm Pekings stände. Als die »Washington Post« dann Näheres wissen wollte, mochte sich Shoham plötzlich nicht mehr dazu äußern.

Dabei ist die Annahme, das Virus sei von Menschen gemacht, völliger Unsinn, so Richard Ebright, Professor für chemische Biologie an der Rutgers University: »Schaut man sich das Genom und die Eigenschaften des Virus an, dann weist aber auch gar nichts darauf hin, dass es sich um ein manipuliertes Virus handelt.«

Doch aus dem Stochern im Nebel über mögliche Ursachen wurde schnell etwas ganz anderes, nämlich die handfeste Verschwörungserzählung. Auf einmal machten Geschichten die Runde, das Coronavirus sei eigens im Labor gezüchtet worden, damit Microsoft-Gründer Bill Gates mit den Gewinnen aus einem Impfstoff ordentlich Reibach machen könne.

Der Hintergrund: Die von ihm gegründete Bill & Melinda Gates Foundation hat in der Vergangenheit das britische Forschungsinstitut Pirbright unterstützt, das wiederum eines der Coronavirus-Patente besitzt.

Im türkischen Fernsehen hieß es, wer das Virus verbreitet habe, werde auch den Impfstoff finden.

Fakten wurden wild gemischt und neue Zusammenhänge hergestellt, die keiner Prüfung standhalten konnten. Und wenn es um Profite geht, die in einer Krise gemacht werden könnten, dann hat die Internationale der antisemitischen Verschwörungstheoretiker schnell Hochkonjunktur.

AKTIENMÄRKTE Exemplarisch geistert seither das judenfeindliche Meme »Happy Merchant« verstärkt durch das Internet, das in Anspielung auf Shakespeares Der Kaufmann von Venedig die Karikatur eines orthodoxen Juden mit Hakennase zeigt, der sich nun über reichlich Business freut.

Auf Plattformen wie »Telegram« hieß es ebenfalls sofort, Juden würden das Coronavirus benutzen, um die internationalen Aktienmärkte zu manipulieren, damit sie anschließend im großen Stil Gewinne einfahren können. Und »white supremacists« in den Vereinigten Staaten wittern hinter der Pandemie eine »Partnerschaft zwischen Zionisten und dem tiefen Staat«. Sie alle wollten durch das Schaffen einer Krisensituation die Wiederwahl von US-Präsident Donald Trump verhindern.

Ferner wurden Infizierte in diversen Posts dazu aufgefordert, in Supermärkte zu gehen, »um auf koschere Lebensmittel zu husten«. All das sollte nicht nur belächelt werden, sondern Anlass zur Sorge sein, weil diese Geschichten sich viral auf Facebook, Twitter oder Instagram verbreiten, betont Alex Friedfeld, Forscher am Center on Extremism der Anti-Defamation League (ADL): »Scheinbar ganz normale Menschen nehmen diese Art von Nachrichten dann auf.«

Iran Doch auch Staaten werden vom Verschwörungsfieber gepackt. Allen voran der Iran, der von der Corona-Krise besonders gebeutelt wird. In der Propaganda der allmächtigen Revolutionsgarden ist derzeit viel von einer »zionistischen biologischen Terrorattacke« die Rede.

Ali Karami, Professor an der Baqiyatallah-Universität für medizinische Wissenschaft, spricht von einer »biologischen ethnischen Waffe«, die die Amerikaner mit den Zionisten gegen die iranische DNA in Stellung gebracht hätten. Für die aktuelle Misere müssen also externe Feinde als Schuldige identifiziert werden – typisch für ein Regime, das sich als völlig unfähig erweist, der Situation Herr zu werden und seiner Bevölkerung zu helfen.

Ähnlicher Nonsens war auch im arabischsprachigen Programm des russischen Senders »Russia Today« zu hören. »Ich glaube, dass dieses Virus sehr sorgfältig ausgewählt wurde, um Länder zu erreichen, die als Rivalen Amerikas gelten, so wie China, der Iran und einige EU-Länder einschließlich Italien«, fabulierte der russische Biologe Igor Nikulin über den Masterplan einer »globalen Regierung«, die eindeutig jüdisch konnotiert sei.

Fakten wurden wild gemischt und neue Zusammenhänge hergestellt, die keiner Prüfung standhalten konnten.

»Diese 200 Familien verfügen über 40 Billionen Dollar und betrachten sich selbst als die wichtigsten Menschen auf der Erde. Ihnen gehören die meisten Medien. Sie sind diejenigen, die die Hollywood-Filme produzieren – sie machen zum Beispiel Filme über Pandemien. Diese Familien kontrollieren die Köpfe der Menschheit und behaupten, dass die Menschheit auf ein Zehntel der heutigen Bevölkerung reduziert werden muss.«

KRONZEUGEN Nichts geschieht durch Zufall, nichts ist, wie es scheint, und alles ist miteinander irgendwie verbunden – auf diesen drei Grundannahmen basieren nach Auffassung des amerikanischen Politikwissenschaftlers Michael Barkun so ziemlich alle Verschwörungstheorien. Hinzu gesellt sich gerne noch der Wunsch nach Komplexitätsreduzierung.

Das türkische Staatsfernsehen lieferte dieser Tage dafür ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch: »Wer immer das Virus verbreitet hat, wird auch das Heilmittel finden.«

Diese steile These formulierte in einer Talk­runde einer jener »Experten«, die bei der Verbreitung solcher Verschwörungstheorien nie fehlen dürfen und die Rolle des Kronzeugen einnehmen. »Und Israel hat bereits erklärt, dass man einen Impfstoff entwickelt habe.« Dieser Logik zufolge muss Israel also allein deshalb hinter dem Coronavirus stecken, weil es Forschungen zu einer Bekämpfung dieser Pandemie betreibt. Andere Länder machen das zwar auch, aber das zählt nicht.

All das klingt nach Irrsinn und Wahn? Genau das ist es auch. Und beides scheint gerade höchst ansteckend zu sein.

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024