Leon Botstein

»Ich möchte wunderbare Musik verteidigen«

Leon Botstein Foto: Matt Dine

Herr Botstein, Sie sind Musikwissenschaftler, Präsident des privaten Bard College in New York, Chefdirigent des American Symphony Orchestra, Ehrendirigent des Jerusalem Symphony Orchestra und Leiter des von Ihnen gegründeten Ensembles »The Orchestra Now« (TON). Obschon Sie kein Jurist sind, werden Sie »Anwalt der vergessenen Komponisten« genannt. Warum?
Mein Lebenswerk ist, wunderbare Musik zu verteidigen. Komponisten, denen Unrecht geschah, möchte ich nachträglich zu ihrem Recht verhelfen. Das ist meine Aufgabe. Ich folge meiner Neugier. Warum müssen jahraus, jahrein immer nur dieselben Meister gespielt werden? Die klassische Musik ist total hollywoodisiert. Immer dieselben Stars.

Zusammen mit den Nürnberger Symphonikern und TON gestalteten Sie das Gedenkkonzert »80 Jahre Kriegsende und Tag der Befreiung« an historisch bedeutsamer Stätte, der Kongresshalle auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Gespielt wurden Werke von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Er ist kein unbekannter Komponist …
Es ist ein starkes Zeichen, dass wir gerade dort seine Musik aufführen und auch mit ihr an das Ende des Naziregimes erinnern. Es war während der Schoa verboten, seine Werke zu spielen. Das ist ein wichtiges Signal für ein offenes, lebendiges Kulturverständnis. Trotz seiner Rehabilitierung steht Mendelssohn weiterhin im Schatten alter antisemitischer Vorurteile. Es heißt etwa, er sei ein oberflächlicher Komponist gewesen, der bloß virtuose Unterhaltungsmusik wie den »Sommernachtstraum« geschrieben habe. Er war verboten, verschwunden – und ist wieder ins Leben zurückgekehrt. Nun führen wir neben seinem Violinkonzert und der Reformationssymphonie auch seine Choralkantate »Verleih uns Frieden gnädiglich« auf, die eher selten erklingt.

Wie ist es für Sie, an diesem Ort aufzutreten?
Es ist eine ironische Fügung, dass ich an diesem Ort als überlebender Jude ein Gedenkkonzert gebe und den Untergang der Nazis feiere.

Mit »The Orchestra Now« haben Sie jüngst das Album »Exodus« herausgebracht, in dem Sie sich den Werken dreier Juden widmen, die vor den Nazis fliehen mussten. Walter Kaufmann emigrierte nach Indien, Marcel Rubin aus Österreich nach Mexiko und Josef Tal 1935 aus Berlin nach Palästina. Hat ihre Musik im Konzertleben eine Chance?
Ich denke schon, es ist allerdings schwierig bei unbekannten Namen, gerade bei einem Publikum, das eher konservativ ist und gern hört, was es kennt. Viele der unter dem NS-Regime »verstummten« Komponisten haben eher traditionell geschrieben, Kaufmann ließ sich aber beispielsweise von der indischen Musik inspirieren. Es ist nicht einfach, ihre Werke dauerhaft im Repertoire zu etablieren. In New York haben wir aber gute Erfahrungen gemacht: Dort vertraut das Publikum darauf, dass diese Musik Qualität hat – man muss keine Angst vor dem Unbekannten haben.

Wie vermitteln Sie diese Meisterwerke?
Mit Gesprächen. Musiker und Zuhörer können sich bei unseren Konzerten in den Pausen und am Ende unterhalten. Ebenfalls können sie uns online Fragen stellen, die die Studenten des Bard College beantworten. Musiker müssen dem Publikum die Meisterwerke zurückbringen, die heute neben der Neuen Musik in den Depots unserer Musikmuseen mit ihren unschätzbar wertvollen Kunstwerken schlummern.

Woher kommt Ihr Interesse für die Vergangenheit?
Diese Neugier war bei mir schon als Kind ausgeprägt. Meine Familie stammt aus Russland, floh nach Polen und schließlich in die Schweiz, wo ich geboren wurde. Wie im jüdischen Großbürgertum üblich, erhielt ich eine gediegene musikalische Ausbildung. Bei uns zu Hause hingen Bilder von unseren verstorbenen Verwandten. Meine Eltern sprachen über sie – und über früher. Ich habe viel von einer vergangenen und vernichteten Welt gehört.

Sie haben sich selbst als Komponist versucht, waren aber mit Ihren Werken unzufrieden und wollten sich in der Bibliothek weiterbilden. Was fanden Sie dort?
Partituren. Aber mich interessierten nicht unbedingt die Symphonien von Beethoven und Brahms, ich bevorzugte unbekannte Partituren von Zemlinksy, Schreker, Magnard – nicht das Übliche. Ihre Partituren waren quasi unberührt. Viele dieser Entdeckungen stammten von jüdischen Flüchtlingen und waren in einer fernen Welt entstanden, von der in den Gesprächen in meiner Familie immer die Rede war. Als Kind habe ich gestottert, so wurde meine natürliche Sprache die Musik.

Später sind Sie auch Hannah Arendt begegnet.
Ja, sie setzte sich für mich ein, dass ich 1975 Präsident des Bard College werde.

Das Bard College zählt zu Amerikas führenden Universitäten der Freien Künste. Es steht für Diversität, viele Geflüchtete studieren bei Ihnen. Haben auch Sie einen Brief von US-Präsident Donald Trump bekommen – wie andere Universitäten in den USA?
Donald Trumps Politik ist eine Tragödie. Nein, wir sind zu klein, er kümmert sich nicht um uns. Aber es ist erschreckend, dass er die Etats bei den Universitäten, Museen und in der Kultur um Millionen Dollar kürzt. Universitäten sind für die Demokratie unverzichtbar, da sie Portale zur Toleranz und Ausdruck der grundlegenden Gleichheit aller Menschen sind.

Kann man der Politik als Dirigent eines Orchesters etwas entgegensetzen?
Ich bin Musiker, weil ich glaube, dass Musik eine eigene Form des Lebens ausdrückt – eine, die anders funktioniert als Sprache oder Bilder. Sie verbindet Menschen, statt sie zu trennen. Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Überzeugungen besuchen Konzerte. Trotzdem ermöglicht ein Konzert, Individualität und Freiheit zu respektieren und zugleich einen gemeinsamen Nenner zu finden. Musik bietet die Chance, andere zu verstehen – auch wenn sie nicht so denken oder glauben wie man selbst. Sie ist eine Kraft gegen das Autokratische, das Tyrannische, gegen Abschottung und Zensur. Nach Trump werden wir eine bessere Demokratie haben.

Der Live-Mitschnitt des Gedenkkonzerts »80 Jahre Kriegsende und Tag der Befreiung« wird am 15. Mai, ab 20.03 Uhr, auf BR-Klassik ausgestrahlt. Mit dem Musikwissenschaftler und Dirigenten sprach Christine Schmitt.

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