Interview

»Geschichte wiederholt sich nicht«

Hitler spricht 1941 im Münchner Hofbräuhaus zum 21. Jahrestag der Parteigründung vor »Alten Kämpfern«. Foto: ullstein bild

Herr Reitzenstein, am 24. Februar 1920 stellte Adolf Hitler im Münchner Hofbräuhaus das NSDAP-Parteiprogramm vor. 100 Jahre ist es her, seit er aus dieser völkischen Bierrunde eine Staatspartei wurde. Sehen Sie Parallelen zur AfD?
Geschichte wiederholt sich nicht. Die AfD, als Euro-kritische Partei gegründet, verändert sich jedoch zunehmend in Richtung völkischer Ideologien, besonders sichtbar im von Björn Höcke vertretenen »Flügel«.

Vertritt die AfD die völkischen Ideologien der NSDAP von 1920?
Nein, vielmehr ist es so, dass schon die NSDAP viele dieser vorher bereits existenten Ideologien für sich vereinnahmt hat. Teilweise die gleichen, teilweise andere dieser völkischen Ideologien findet man in den Reden einzelner prominenter AfD-Politiker.

Wie haben sich diese völkischen Ideologien entwickelt?
Seit 1813 und besonders ab 1848 haben völkische Theoretiker wie Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Ludwig »Turnvater« Jahn oder Ernst Moritz Arndt den Begriff »völkisch« geprägt. Deren Ideologie war gekennzeichnet von dem Glauben an die Überlegenheit der imaginären »ursprünglichen« Deutschen, ihrer (Rasse-)Reinheit und absoluten Eigenständigkeit, gemischt mit Xenophobie. Einige Elemente davon finden wir auch schon in der frühen NSDAP, neben zahlreichen weiteren völkischen Strömungen. Selbst innerhalb der Jahre von 1939 bis 1945 variierten die Interpretationen des Völkischen.

Inwiefern spielt die AfD mit Nazisprache?
Durch Provozieren mit mehrdeutigen Worten und Stereotypen, beispielsweise Höckes Begriff »Mahnmal der Schande« oder Gaulands »Vogelschiss«. Es wird bewusst ein Interpretationsspielraum gelassen, was mediale Aufmerksamkeit sichert – in den klassischen Medien und mehr noch in den Social Media, weil Menschen über diese Deutungsdifferenzen intensiv sprechen. Anschließend wird eine Distanzierung nachgeschoben, die abermals mediale Aufmerksamkeit generiert. Es scheint, dass AfD-Politiker zunehmend gezielt mit NS-Stereotypen und NS-Sprachbildern spielen, um durch Provokation Aufmerksamkeit zu bekommen. Damit sind sie leider sehr erfolgreich – wie dieses Interview zeigt. Sonst würden wir uns nicht darüber unterhalten.

Verwendet die AfD Nazisprache?
Es hat wohl niemand die Sprache des NS-Regimes so exakt beschrieben wie der Dresdner Literaturwissenschaftler Victor Klemperer in seinem Werk LTI – Notizbuch eines Philologen (Lingua Tertii Imperii). Furchtbare Verbrechen mit harmlos klingenden Worten zu kaschieren, ist nicht gleichzusetzen mit den Provokationen der AfD. Jedoch zeigt Klemperer, was Sprache vermag, beispielsweise Begriffe wie »Sonderbehandlung«, »fremdvölkisch«, »andersrassig« oder »Umsiedlung«. Ein Hundezüchter wird einen andersrassigen Hund nicht unbedingt mit Nazisprache assoziieren. Wenn hingegen Rechtsradikale vor einer Flüchtlingsunterkunft so ein Wort verwenden, ist der Kontext ganz klar erkennbar.

Was steckt dahinter, wenn ein AfD-Politiker die Verlegung einer Erstaufnahmeeinrichtung von Flüchtlingen an einen anderen Ort als »Umsiedlung« bezeichnet?
Dann wäre das ein typisches Beispiel für ein eigentlich harmloses Wort, das aber von den Nationalsozialisten gerade im Umgang mit »Anderen« bis hin zu ihrer Vernichtung so geprägt und pervertiert wurde, dass sich seine Verwendung in diesem Zusammenhang schlicht verbietet. Das heißt, das Wort Umsiedlung ist kein Nazi-Wort, aber in einem bestimmten Kontext ist es ein Wort, das die Nationalsozialisten für alle Zeiten desavouiert haben.

1932 wurde die NSDAP stärkste Kraft im Reichstag und hob umgehend das demokratische System aus den Angeln. Auch die AfD verhöhnt das Parlament und versuchte im Erfurter Landtag, sie – mit demokratischen Mitteln – auszuhebeln. Sind wir schon mittendrin in einer grundlegenden Veränderung unserer Demokratie?
Joseph Goebbels publizierte 1928 den Satz »Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. Wir zerbrechen uns darüber nicht den Kopf. Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren.« Dieses obstruktive Aushebeln des demokratisch-parlamentarischen Systems mit dessen rechtsstaatlichen Regeln und dessen anschließende Verhöhnung ist im Erfurter Landtag deutlich zu beobachten gewesen. Der Dammbruch, erst einen Kandidaten aufzustellen, um ihn dann nicht zu wählen, sondern die anderen Parteien vorzuführen, zeigt – ohne dies gleichzusetzen – ähnliche Obstruktion, wie sie Goebbels beschrieb.

Was können wir heute daraus lernen, so erschreckend die Lehren vielleicht sein mögen?
Die demokratischen Parteien in der Weimarer Republik haben nicht gemeinsam gegen Rechtsaußen oder Linksaußen gekämpft; sie haben sich nach den Provokationen und gezielten Obstruktionen und der Verächtlichmachung durch KPD und NSDAP, die ja beide das System abschaffen wollten, einfach nur selbst weiter zerfleischt. Als wäre das Vorgehen von Höcke im Erfurter Landtag nicht schon schlimm genug, marginalisieren sich die Parteien der Mitte abermals gegenseitig. Der Berliner SPD-Fraktionsvorsitzende Saleh zweifelte in dieser Woche daran, dass CDU und FDP uneingeschränkt zur Demokratie und zum Grundgesetz stehen. Der grüne Justizsenator in Hamburg bezeichnet die FDP als Totengräber der Demokratie und textet »AFDP«. Es ist anzunehmen, dass diese beispielhaft genannten Politiker es besser wissen. Doch derzeit scheint es wohlfeil, kurzfristig politisches Kapital auf Kosten anderer Demokraten zu generieren. Langfristig erzielen dadurch die Demokratiefeinde an den Rändern des politischen Spektrums anstrengungsfrei Erfolge. Insofern sollten wir tatsächlich Lehren aus dem Untergang der Weimarer Republik ziehen.

Bei allen Parallelen – welche Unterschiede gibt es?
Damals wurden politische Informationen durch Zeitungen und Plakate transportiert. Heute finden völkische und Opfernarrative der politisch Radikalen online binnen Millisekunden ihren Weg in jedes bürgerliche deutsche Wohnzimmer. Doch dies hat auch eine Kehrseite: Immer mehr Menschen verstehen, dass man ganz unabhängig von der eigenen Parteipräferenz als Demokraten in der Mitte zusammenstehen muss – auf einem gemeinsamen Wertefundament.

Wie sieht das konkret aus?
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben selbiges nicht nur auf Basis der Erfahrungen von 1933 bis 1945 gestaltet, sondern auf etwas gegründet, das sich über Jahrhunderte entwickelt hat: die Gedanken der Freiheit, der Eigenverantwortung, der (Chancen-)Gleichheit, der Gleichberechtigung und vielem mehr. Wenn die AfD fordert, dass man wieder stolz auf Deutschland sein kann, bieten genau diese kultur- und verfassungsgeschichtlichen Traditionen dafür einen hervorragenden Grund. Doch sind diese Werte nicht kompatibel mit völkischen Narrativen – die zunehmend Markenkern des »Flügels« der AfD werden.

Mit dem Historiker an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Organisator von Fachtagungen zum Forschungsfeld der »Völkischen Wissenschaften« sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.

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