Fernsehen

»Unorthodox« in deutschen Wohnzimmern

Die Satmar-Gemeinschaft in New York Foto: Anika Molnar/Netflix

Die vierteilige Miniserie Unorthodox ist binnen weniger Wochen zum Binge-Watching-Phänomen auf dem Streaming-Portal Netflix geworden. Nun ist sie mehrfach für den deutschen Fernsehpreis nominiert. Die junge Hauptprotagonistin Esty Shapiro flieht darin aus ihrer Gemeinschaft, in der sie sich zwanghaften Strukturen unterordnen muss und keinen Raum zur Selbstentfaltung findet. Auf der Suche nach festem Boden gräbt Esty nach ihren familiären Wurzeln und findet sie am anderen Ende der Welt. Eine universelle Geschichte?

Lobende Kritiken von der »New York Times« bis zur »Vogue« – es scheint, als wollte die ganze Welt Esty auf ihrem Weg in die Freiheit begleiten. Auch Jan Böhmermann und Olli Schulz konnten sich in ihrem Podcast »Fest & Flauschig« dem Serienphänomen nicht entziehen und luden kürzlich die Regisseurin Maria Schrader zum Gespräch ein:

FEST & flauschig »Das ist wirklich eine fantastische Serie. Auf so vielen Ebenen ist das wichtig«, schwärmt Böhmermann. Und gerade jungen Leuten, die wenig Ahnung von jüdischer Kultur hätten, sei die Serie als besonders guter Einstieg empfohlen, so der Moderator des am meisten gehörten Podcasts in Deutschland.

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Über das einstündige Gespräch hinweg sprechen Böhmermann, Schulz und Schrader über die großartige schauspielerische Leistung der Hauptdarstellerin Shira Haas, die Nachrichten, die sie aus aller Welt erhält, die Liebe der Serie zum Detail, wie toll und hip Berlin repräsentiert sei – und ob die Szene mit der Alufolie in der Küche an Pessach ein Scherz gewesen sei.

Es ist eben nicht nur eine universelle Geschichte, sondern auch eine sehr spezielle.

Und spätestens hier wird deutlich: Unorthodox ist eben nicht nur eine universelle Geschichte. Es ist auch eine sehr spezielle. Doch Böhmermann und Schulz scheinen viel weniger von Estys Schicksal fasziniert als vom Blick in das exotisch anmutende Innenleben einer jüdischen Gemeinde: »Es ist wahnsinnig faszinierend, Einblick in eine Gemeinschaft zu bekommen, in die es eigentlich keinen Einblick gibt. Ich glaube, das hat einfach ganz viele Leute gereizt.«

PERSPEKTIVE In einer Gesellschaft, in der das Sprechen über Judentum fast ausschließlich im Kontext von Schoa, Nahostkonflikt und der Alltäglichkeit des Antisemitismus erfolgt, erscheint ein solche Perspektive eben »wahnsinnig faszinierend«.

Dabei bietet die Geschichte von Esty Shapiro Einblick in eine Facette jüdischen Lebens, der für die gesamte jüdische Gegenwart keineswegs repräsentativ ist. Auch Juden – so divers ihre Lebensentwürfe auch sein mögen – fällt es häufig schwer, eine angemessene Auseinandersetzung mit dem Phänomen der abgekapselten Ultraorthodoxie zu finden.

Die Grundlage für den Plot von Unorthodox lieferte die gleichnamige Autobiografie von Deborah Feldman, die als Anfang-20-Jährige gemeinsam mit ihrem Sohn aus der Satmar-Gemeinde in Brooklyn floh und über Umwege in der deutschen Hauptstadt ein neues Leben begann.

Die Gemeinde, die Feldman wie viele Aussteiger aus ultraorthodoxen Kreisen beschreibt, ist geprägt vom Trauma der Schoa, die von den Satmarern als Strafe Gottes gedeutet wird. Aus dem Überleben der Schoa leiten sie eine religiöse Pflicht ab, die von ihnen ein gottesfürchtiges Leben verlangt.

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Die Auswirkungen dieses Traumas werden an vielen ultraorthodoxen Enklaven auch heute besonders sichtbar. In nahezu allen jüdischen Communities wirken sie fort. Feldman, wie auch der Hauptprotagonistin Esty, ermöglichte das im Grundgesetz verankerte Recht auf Wiedereinbürgerung der Verfolgten des NS-Regimes ein Leben als deutsche Staatsbürgerin in Berlin.

HARMONIE Während sich in der Umsetzung der Serie sehr detailgenau an den Schilderungen Feldmans zu ihrem Aufwachsen und Leben in der Satmarer Gemeinde in Williamsburg orientiert wurde, nimmt die Geschichte von Esty in der Serie mit ihrem Ankommen in Berlin eine fiktive Wendung.

Esty kann ungezwungen ihrer Leidenschaft für Musik nachgehen. Berlin wird zum Abbild eines Idealzustandes, zu einem Sehnsuchtsort, an dem unterschiedliche Identitäten und Biografien aufeinanderprallen und dennoch Frieden und Versöhnung herrscht. Einem Ort, an dem das Grauen der Schoa viel sichtbarer ist als in Brooklyn und gleichzeitig überwunden scheint. Esty, ähnlich wie unzählige Israelis, die in den letzten Jahren ihren Weg nach Berlin fanden, sehnt sich nach einem Ort, an dem Harmonie herrscht. 

Berlin wird zum Abbild eines Idealzustands.

Von den »vielen Ebenen«, die Böhmermann und Schulz in der Serie zu erkennen glauben, erfahren die Zuhörenden von »Fest & Flauschig« indes wenig. Immer wieder werden im Gespräch die Auswirkungen der Schoa auf die ultraorthodoxe Gemeinschaft ausgespart. An keiner Stelle werden sie in einen Bezug zur deutschen, zur eigenen Geschichte gesetzt. Ganz so, als könnte es nichts Fremderes, dem progressiven Lebensentwurf der Schulzes und Böhmermanns dieses Landes Ferneres geben. So sprechen die beiden Moderatoren ganz lapidar vom Jiddischen als Sprache, »die ja quasi ausgestorben ist«. Dabei ist sie freilich eben nicht einfach so verschwunden, sie wurde vernichtet.

Dogma Die Rigidität, mit der sich viele ultraorthodoxe Gemeinschaften an die dogmatische Befolgung des jüdischen Regelwerks halten, kann auch als Reaktion auf die Vernichtungsaggression verstanden werden, mit der ihnen alles an ihrer Kultur durch die Nazis entrissen wurde. Aber die jüdische Lebensrealität bildet eben nicht nur solche Extreme ab, sie ist facettenreicher und durch Nuancen bestimmt.

Jiddisch wird heute – anders als im Podcast behauptet – nicht nur in abgeschotteten Nachbarschaften in Williamsburg/Brooklyn oder im Jerusalemer Viertel Mea Shearim gesprochen, sondern ist derzeit auch auf der Facebook-Seite der Jüdischen Gemeinde Darmstadt über Zoom zu finden. Jiddisch erfährt eine Wiederbelebung an Universitäten, und unter vielen Nachfahren osteuropäischer Juden wird es auch heute noch verstanden. Auch die Co-Autorin dieses Textes konnte den Seriendialogen ohne Untertitel folgen: Sie hat Jiddisch durch die Gespräche zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter gelernt.

RITUALE Die Serie Unorthodox ist unter anderem so erfolgreich wie kontrovers, weil sie beim Publikum Unterschiedliches auszulösen vermag. Eine mehrheitsgesellschaftliche Perspektive erfreut sich derzeit munter an einem »nie da gewesenen Einblick in eine fremde, exotische Welt« und unterliegt dabei ihrem eigenen »German Gaze«. Darin spiegelt sich ein Bedürfnis wider, das jüdische Fremde ohne Umstände anzustarren, eine Welt, die mit ihnen selbst nichts zu tun zu haben scheint. Bei vielen Juden hinterlässt dies ein Unbehagen.

Die vermeintlichen Eigenartigkeiten religiöser Rituale, die in Unorthodox gezeigt werden, erfahren jedoch auch im öffentlichen Sprechen darüber keinerlei Erklärung und Kontextualisierung. So lässt eine Szene, in der die Familie am ersten Pessachabend in einer mit Alufolie ausgekleideten Küche gezeigt werden, Böhmermann annehmen, es handele sich dabei um einen Scherz. 

So eigentümlich dieses Bild anmutet, es ist eines, das sich in vielen traditionellen jüdischen Haushalten findet: Denn zu Pessach soll nach jüdischer Tradition das gesamte Haus für eine Woche in Erinnerung an den Auszug aus der ägyptischen Versklavung von ungesäuerten Lebensmitteln befreit werden. Alufolie erweist sich nun mal als recht praktisch, wenn die Küche an Pessach von Brotkrümeln befreit bleiben soll.

Nein, lieber Jan Böhmermann, die Szene mit der Alufolie in der Küche ist kein Scherz.

Das Judentum – von orthodox bis progressiv – ist durch religiöse Praktiken charakterisiert, die Glauben, Kultur und Geschichte auch auf moderne jüdische Lebensentwürfe übertragbar machen. Das mag im Auge eines unwissenden Betrachters sonderbar wirken.

Liberal Bei besserem Verständnis werden jene Praktiken jedoch greifbar. Sie sind letztlich der Grund dafür, warum es ein säkulares und auch ein liberales Judentum neben einer Orthodoxie geben kann und warum man als Teil der jüdischen Gemeinschaft nicht an Gott glauben muss und sich dennoch zugehörig fühlen kann.

Böhmermanns Reaktion hinterlässt jedoch nicht den Eindruck seines tatsächlichen Interesses an der jüdischen Lebenswelt in all ihren praktischen Ausprägungen. Aus ihm spricht die Faszination für das exotische Jüdische, das eben auch die Funktion des Fremden behalten soll.

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Und so ist Unorthodox, anders, als Böhmermann es behauptet, kein »guter Einstieg in die jüdische Kultur«, kein Crashkurs für Anfänger. Viel eher bietet die Serie neben einer universellen Story eine Auseinandersetzung für Fortgeschrittene, denn sie unterstreicht die Verwobenheit, die Sehnsüchte und die blinden Flecken einer deutsch-jüdischen Geschichte, die von Schmerz, Scham und Trauma durchzogen ist – und zwar für alle Beteiligten.

AMBIVALENZEN Böhmermanns Reaktion hinterlässt jedoch nicht den Eindruck seines tatsächlichen Interesses an der jüdischen Lebenswelt in all ihren praktischen Ausprägungen. Damit ist er keineswegs allein. Im vergangenen Jahr sorgte das Titelbild des Magazins »Spiegel Geschichte« für Diskussionen. Es zeigte eine klischeebeladene Zeichnung zweier orthodoxer Juden und titelte: »Jüdisches Leben in Deutschland – Eine unbekannte Welt nebenan«. Aus jenen Darstellungen spricht die Faszination für das exotische Jüdische, das eben auch die Funktion des Fremden behalten soll. Anhand eines solchen Sprechens über Unorthodox wird deutlich, auf welchen gesellschaftlichen Resonanzraum die Serie trifft. Für Juden – insbesondere jene, die als Juden sichtbar sind, weil sie eine Kippa tragen oder einen Davidstern – ist Berlin keineswegs die Insel der Glückseligkeit, wie in der Serie vermittelt wird.

Unorthodox inszeniert Berlin als einen Ort der Sehnsucht, Hoffnung und Zuflucht, an dem Antisemitismus keine Bedeutung und Wirkmacht zu haben scheint. Auch diese Sehnsucht ist eine jüdische Perspektive.

Umso wichtiger ist es, sich in der Betrachtung der Serie zu vergegenwärtigen, dass die Realität auch 75 Jahre nach der Schoa eine andere ist. Die Auseinandersetzung mit diesem Missstand sollte dem hiesigen Publikum nicht erspart bleiben, wenn es sich doch so sehr für die Eigenarten jüdischen Lebens interessiert.

Identität Die Macherinnen der Serie hatten sicherlich ihre Gründe, weshalb sie Rituale unerklärt lassen, Berlin als identitätspolitische Traumvorstellung portraitieren und dabei die Ambivalenzen der deutschen Realität aussparen.

Ein Deutungsraum für diese Kunstgriffe kann jedoch nicht nur mehrheitsdeutschen Blicken überlassen werden, ohne dass sie daran erinnert werden, dass Estys Schicksal mit ihnen selbst sehr viel mehr zu tun hat, als ihnen lieb ist, beim gemütlichen Binge-Watching auf dem Sofa. 

Laura Cazés ist als Referentin für Verbandsentwicklung bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland tätig und beschäftigt sich im Rahmen ihres Engagements mit der Wahrnehmung jüdischer Lebenswelten in Deutschland und dem Einbezug jüdischer Perspektiven in ein intersektionales Verständnis von Feminismus.

Jakob Baier ist Politikwissenschaftler und beschäftigt sich in Forschung und Lehre mit der jüngeren Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus, Verschwörungsideologien in modernen Medien und psychoanalytischer Kulturwissenschaft.

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