Film

Fiebertraum oder absurde Realität?

Petrow (Semjon Sersin) im Bus Foto: farbfilm verleih

Keuchend schleppt sich Petrow durch den überfüllten Bus. Es ist Winter, die Scheiben des klapprigen alten Gefährts sind beschlagen. Die graue, gesichtslose Großstadt, die draußen vorbeizieht, lässt sich nur erahnen. Einer der verwahrlost wirkenden Passagiere fabuliert von den guten alten Zeiten. Früher, in der Sowjetunion, sei es noch um den Menschen gegangen. Aber heute? »Überall Tadschiken und Juden – die haben bei uns das Sagen!« Sein Nebenmann pflichtet ihm bei: »Man muss alle, die an der Macht sind, an die Wand stellen!«

Petrow hat sich mittlerweile bis zum Ausgang durchgekämpft, als der Bus plötzlich quietschend zum Halt kommt. Die Tür öffnet sich, draußen steht ein Mann, der eine knallrosa Wrestling-Maske trägt. Er reicht Petrow eine Kalaschnikow und zieht ihn mit sich. Einige Meter weiter herrscht Anarchie: Wohlhabend aussehende Menschen in Anzügen und Gala-Kleidern werden von bewaffneten Männern brutal abgeführt und buchstäblich vor eine Wand gestellt. Das Erschießungskommando hebt an – und feuert.

skurril Wunschtraum, Albtraum, Fiebertraum: In Kirill Serebrennikows fulminantem Meisterwerk Petrow hat Fieber (Petrov’s Flu) ist das alles nah beieinander. Immer wieder ist es schwer zu entscheiden, was der Grippe des Protagonisten entspringt oder einfach der absurden Realität, in der er lebt, geschuldet ist. Die Entführung einer Leiche, eine Bibliothekarin mit Superkräften, der Besuch von Außerirdischen – an skurrilen Begebenheiten mangelt es dem 145 Minuten langen Film durchaus nicht.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Durch all das stolpert der fiebernde Petrow, ein Automechaniker, der Aspirationen zum Comic-Zeichner hat, ein Familienvater mit homosexuellen Affären. Mal verhilft er einem erfolglosen Literaten zum Selbstmord oder findet sich in einem wirren Gespräch mit einem Verschwörungstheoretiker wieder, um im nächsten Moment Erinnerungen aus seiner Kindheit der Breschnew-Zeit erneut zu durchleben. Alles hängt miteinander zusammen, nichts macht so richtig Sinn.

So komisch viele der Ereignisse und Dialoge sein mögen und so empathisch einige der Figuren gezeichnet sind, Serebrennikow zeigt in Petrow hat Fieber ein erschütterndes Bild seiner russischen Heimat: Zynismus, Vulgarität, Antisemitismus und allgegenwärtige Gewalt – sogar ein Treffen des Literatenzirkels endet in einer Schlägerei über den Streit um die angemessene Länge von Gedichten. In dem Film ist es meistens dunkel, die Farben sind ausgeblichen, die Gesichter der Menschen verbraucht.

Der Regisseur kennt die Realität, die er auf die Leinwand bringt, zur Genüge.

Der Regisseur kennt die Realität, die er auf die Leinwand bringt, zur Genüge: Vor allem für seine avantgardistischen Inszenierungen am Moskauer Gogol Center bekannt, geriet Serebrennikow, der einen jüdischen Vater hat, schnell ins Fadenkreuz der russischen Behörden.

HAUSARREST Sein Nonkonformismus war den Herrschenden in Russland offenbar ein Dorn im Auge: Nach wahrscheinlich fingierten Vorwürfen wegen Veruntreuung wurde Serebrennikow jahrelang unter Hausarrest gestellt, bevor er 2020 zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. In dieser Zeit gelang es dem Regisseur dennoch, zahlreiche Inszenierungen an Bühnen in ganz Europa umzusetzen. Für die Proben war er häufig aus dem Hausarrest online zugeschaltet.

Die Dreharbeiten an Petrow hat Fieber, der auf einem Roman von Alexei Salnikow beruht, begannen, während Serebrennikow vor Gericht stand. Schließlich konnte er Russland kurz vor Beginn des Ukraine-Krieges verlassen und lebt heute in Berlin.

Viel Hoffnung auf eine befriedete russische Gesellschaft gibt er mit Petrow hat Fieber nicht. Irgendwann bekommt der aus dem letzten Loch pfeifende Protagonist eine Aspirin von einem wohlwollenden Wahnsinnigen zugesteckt. Die Tablette ist aus den 70er-Jahren, der guten alten Zeit also. Doch ob ein 50 Jahre altes Medikament immer noch Fieber senken kann? Fraglich.

Der Film läuft ab dem 26. Januar in den Kinos.

Rheinland-Pfalz

»Aus Beutebeständen« - NS-Raubgut in rheinland-pfälzischen Museen

Viele kleine Museen in Rheinland-Pfalz haben bisher nicht danach geforscht, ob NS-Raubgut in ihrem Besitz ist. In den Sammlungen von vier dieser mehr als 400 Museen sah eine Kunsthistorikerin nun genauer nach

von Norbert Demuth  06.06.2025

Medien

Deutschlands Oberlehrer

Wer will noch mal, wer hat noch nicht? In diesen Tagen scheint die Diffamierung Israels oberste Bürgerpflicht zu sein. Ein Kommentar

von Michael Thaidigsmann  06.06.2025 Aktualisiert

Interview

»Es findet ein Genozid statt« – »Israel muss sich wehren«

Henryk M. Broder und Hamed Abdel-Samad über ihre langjährige Freundschaft, was sie verbindet – und was sie nach dem 7. Oktober 2023 trennt

von Philipp Peyman Engel  06.06.2025 Aktualisiert

Berlin

Dokumentarfilm »Don’t Call It Heimweh« über Margot Friedländer

Die Dokumentation von Regisseur Thomas Halaczinsky zeigt Friedländers erste Reise aus New York nach Berlin im Jahre 2003. Es war ihre erste Fahrt in die Heimatstadt nach 60 Jahren

 05.06.2025

TV-Tipp

Das Schweigen hinter dem Schweinderl

»Robert Lembke - Wer bin ich« ist ein kluger Film über Verdrängung, Volksbildung und das Schweigen einer TV-Legende über die eigene Vergangenheit. Nur Günther Jauch stört ein wenig

von Steffen Grimberg  05.06.2025

Bildung

Mehr als nur zwei Stunden Reli

Jüdischer Religionsunterricht muss attraktiver werden und auch Kinder erreichen, die keine jüdische Schule besuchen. Was kann konkret getan werden?

von Uri R. Kaufmann  05.06.2025

Wissenschaft

Wie die Jerusalemer Erklärung Antisemitismus verharmlost

Kritiker der IHRA-Antisemitismusdefinition behaupten gerne, die konkurrierende Jerusalemer Erklärung sei klarer und kohärenter. Doch das Gegenteil ist der Fall

von Ingo Elbe, Sven Ellmers  05.06.2025

Dresden

»Tiefgang mit Witz«: Erste Lesung des Dresdner Stadtschreibers Alexander Estis

Der jüdische Autor schreibe heiter, ironisch, grotesk und überrasche mit originellen Beobachtungen, so die Stadtverwaltung

 04.06.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Tabellenfragen: Was hat die Jewro mit der Bundesliga gemeinsam?

von Katrin Richter  04.06.2025