Meinung

Eine deutsche Debatte

Hat nichts gegen Juden, nur gegen ihren Staat: Jakob Augstein Foto: imago, Montage

Alle Jahre wieder – auch wenn oft ein paar Jahre mehr dazwischen liegen – versumpfen wir Deutsche in einer Antisemitismusdebatte. Den letzten historischen Meilenstein setzte Martin Walser, danach rumpelten Hohmann, Möllemann und Grass durch die Medien. Heute ist es, der Umstand lässt einen grübeln, Martin Walsers Sohn, Jakob Augstein, dessen Ziehvater Rudolf Augstein ebenfalls nicht als Israelfreund in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen ist.

Im Gegensatz zu seinen Vätern schaffte es der Sohn jedoch nicht aus eigener Kraft ins Zentrum der Debatte. Er verdankt sein Outing dem Simon-Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles. So steht er nun seit einigen Wochen auf einer Liste mit weltweiten Israelfeinden und Judenhassern, darunter Mahmud Ahmadinedschad und die ägyptischen Moslembrüder, aber auch ein antisemitischer Karikaturist aus Brasilien und europäische Fußballfans.

mainstream Dort fühlt Augstein sich fehl am Platze, im Einklang mit einer gefühlten Mehrheit der Deutschen. Doch die Summe aller Verunglimpfungen, Tatsachenverdrehungen, Diffamierungen und Verleumdungen der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Israel in Augsteins »Spiegel-Online«-Kolumnen haben ihn in die Ecke gebracht, in der er gelandet ist und wo er hingehört.

In der Augsteinschen Interpretation der Dinge beeinflusst, ja dominiert die »Israel-Lobby« die Weltpolitik, die israelische Atombombe bedroht den Frieden im Nahen Osten, jüdische Orthodoxe unterscheiden sich nicht von islamischen Fundamentalisten. Selbst vom Schicksal der »Schlecker-Frauen« schlägt er noch den Bogen zu deutschen U-Boot-Lieferungen an Israel.

Nichtsdestotrotz, seine Sicht der Dinge entspricht dem Tenor der Debatten in sozialen Netzwerken, an Lehrstühlen, Stammtischen und in Redaktionen namhafter Medien. So spricht die Frankfurter Allgemeine Zeitung Augstein von den Vorwürfen frei, namhafte Antisemitismus-Experten springen dem Kolumnisten bei und die Frankfurter Rundschau aus dem Hause DuMont sähe seinen schärfsten Kritiker, Henryk M. Broder am liebsten hinter Gittern.

Broder soll im Radioprogramm des öffentlich rechtlichen Rundfunks nicht kommentieren, während Augstein, der ebenfalls für den Sender arbeitet, in einem knapp sechsminütigen Interview sich selbst den Persilschein ausstellen darf. Auch der Vizepräsident des Zentralrates der Juden, Salomon Korn, sagte im Deutschlandradio Kultur: »Ich hatte nie den Eindruck, dass das was er geschrieben hat, antisemitisch ist.«

vorreiter Wie schon in vorangegangenen Debatten lautet die rhetorische Frage auch diesmal wieder, ob man einen angesehenen Journalisten oder Schriftsteller, Nobelpreisträger, Politiker überhaupt einen Judenfeind nennen darf oder ob seine Argumente etwa nur antisemitisch gefärbt sind.

Ob er vielleicht nur ein latenter Antisemit ist und von seiner Dummheit gar nichts weiß, oder ob es sich bei seinen Auslassungen überhaupt nicht um Antisemitismus handelt, sondern nur um legitime Israelkritik. Letzteres führen all jene ins Feld, die es eh nicht so haben mit den Juden und Israel, das aber nicht öffentlich zu sagen wagen. Ermöglicht es ihnen schließlich, sich von nun an auf einen honorigen Vorreiter zu berufen. So lautete passenderweise die Überschrift eines Kommentars zu dieser Debatte in der taz: »Wir Antisemiten«.

projektionen Genauso symptomatisch für Antisemitismusdebatten in Deutschland ist, dass es meist Juden sind, die die Verunglimpfungen Israels und Ressentiments gegen Juden ans Tageslicht zerren: Bubis, Friedman, Broder oder jetzt das Wiesenthal Center.

Man kennt sie, die Alarmsirenen der Nation, wundert sich, weshalb es immer dieselben sind, und bekommt als Jude in Deutschland spätestens dann jenes Übelkeitsgefühl in der Magengrube, bei dem man sich fragt, ob man noch im richtigen Lande lebt, wenn die jüdischen Kritiker für ihre Kritik kritisiert werden: Der Jude ist auf einmal nicht nur schuld am Antisemitismus, er befördert ihn offenbar auch noch, indem er ihn zu bekämpfen versucht. Gleiches Schema übrigens gilt für Israel, das, der Logik seiner Kritiker folgend, den Hass auf sich verstärkt, weil es sich gegen die Angriffe seiner islamistischen Nachbarn wehrt.

Der Antisemitismus ist eine komplizierte Angelegenheit. Wüsste man, woher er kommt und weshalb es ihn gibt, hätte man ihn schon längst beseitigt. Sicher ist: An den Juden allein kann es nicht liegen, wüten Vorurteile und Judenhass nachweislich doch gerade dort am stärksten, wo es gar keine Juden gibt. Irrationale Phänomene lassen sich nun mal nicht erklären. Und wer glaubt, der Antisemitismus von heute entspreche dem Wahn der Nationalsozialisten von damals, irrt. Der Teufel kommt immer in neuem Gewand.

gescheitert Was helfen würde, wären Sensibilisierung und gesunder Menschenverstand. Doch auch damit sind wir in Deutschland offenbar gescheitert. 60 Jahre politische Aufklärungsarbeit, exzessiver Geschichtsunterricht in den Schulen, Claude Lanzmanns Film Shoah in den Wohnzimmern und Guido Knopp als Endlosschleife vor dem Zubettgehen haben es nicht vermocht, die Öffentlichkeit ausreichend für Verleumdung, Verhetzung und Lügen über Juden und Israel zu sensibilisieren, sodass man in einem Jakob Augstein mehrheitlich den erkennt, der er ist: einen, der es vermag, seine Abscheu gegenüber dem demokratischen, westlichen Staat Israel derart zu artikulieren, dass man nach der Lektüre seiner Texte dem Juden beim »Grüß Gott« nicht mehr die Hand reichen will.

Berlin

Neue Nationalgalerie zeigt, wie Raubkunst erkannt wird

Von Salvador Dalí bis René Magritte: Die Neue Nationalgalerie zeigt 26 Werke von berühmten Surrealisten. Doch die Ausstellung hat einen weiteren Schwerpunkt

von Daniel Zander  17.10.2025

Theater

K. wie Kafka wie Kosky

Der Opernregisseur feiert den Schriftsteller auf Jiddisch – mit Musik und Gesang im Berliner Ensemble

von Christoph Schulte, Eva Lezzi  17.10.2025

Frankfurter Buchmesse

Schriftsteller auf dem Weg zum Frieden

Israelische Autoren lesen an einem Stand, der ziemlich versteckt wirkt – Eindrücke aus Halle 6.0

von Eugen El  17.10.2025

Kino

So beklemmend wie genial

Mit dem Film »Das Verschwinden des Josef Mengele« hat Kirill Serebrennikow ein Meisterwerk gedreht, das kaum zu ertragen ist

von Maria Ossowski  17.10.2025

Meinung

Entfremdete Heimat

Die antisemitischen Zwischenfälle auf deutschen Straßen sind alarmierend. Das hat auch mit der oftmals dämonisierenden Berichterstattung über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas zu tun

von Philipp Peyman Engel  16.10.2025

Esther Abrami

Die Klassik-Influencerin

Das jüngste Album der Französin ist eine Hommage an 14 Komponistinnen – von Hildegard von Bingen bis Miley Cyrus

von Christine Schmitt  16.10.2025

Berlin

Jüdisches Museum zeichnet Amy Gutmann und Daniel Zajfman aus

Die Institution ehrt die frühere US-Botschafterin und den Physiker für Verdienste um Verständigung und Toleranz

 16.10.2025

Nachruf

Vom Hilfsarbeiter zum Bestseller-Autor

Der Tscheche Ivan Klima machte spät Karriere – und half während der sowjetischen Besatzung anderen oppositionellen Schriftstellern

von Kilian Kirchgeßner  16.10.2025

Kulturkolumne

Hoffnung ist das Ding mit Federn

Niemand weiß, was nach dem Ende des Krieges passieren wird. Aber wer hätte zu hoffen gewagt, dass in diesen Zeiten noch ein Tag mit einem Lächeln beginnen kann?

von Sophie Albers Ben Chamo  16.10.2025