Glosse

Der Rest der Welt

Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress

Glosse

Der Rest der Welt

Heile Welt in Berlin-Mitte oder Mein skurrilstes Weihnachtserlebnis

von Ayala Goldmann  04.01.2024 09:10 Uhr

Viele Juden, die ich kenne, sind stolz darauf, dass sie Weihnachten ignorieren und Silvester stoisch ertragen – weil Rosch Haschana doch viel tiefsinniger sei. Seitdem die Böllerei in Berlin vor einem Jahr bürgerkriegs­ähnliche Formen angenommen hat, gebe ich ihnen recht. Der private Raketenterror sollte endlich verboten werden. Vor allem auf dem Dürerplatz in Friedenau, um den wir in der Silvesternacht einen großen Bogen gemacht haben. Wobei … Schön war das Neujahrsfeuerwerk über den Dächern der Hauptstadt dann doch. Aber nur, wenn man es von einem sicheren Posten im 5. Stock in Wilmersdorf aus beobachtet.

Mit Weihnachten ist es komplizierter. Denn ich habe tatsächlich … ähm … ja, ich habe Christbaumkugeln vermisst! Viele Jahre waren wir über die Feiertage bei den Schwiegereltern, haben uns am geschmückten Baum erfreut, an den Strohsternen, den Kugeln und den Kerzen. Danach wurden wir mit Gans aus dem Ofen, Klößen und Rotkohl beköstigt.

Am 24. Dezember zu dritt in unserer Berliner Wohnung

Diesmal aber saßen wir am 24. Dezember zu dritt in unserer Berliner Wohnung. Statt Gans gab es Entenbrust. Genauer gesagt Tiefkühl-Ente, die frische war ausverkauft. Nach dem Essen hatten wir Bauchschmerzen. Und ich das Gefühl, etwas Wesentliches verpasst zu haben. Besinnlichkeit. Hoffnung. Heile Welt.

Zum Glück lebe ich in der »Entwicklungsstadt Berlin«. So steht es auf der großstädtischen Website, die über Sanierungsarbeiten am Gendarmenmarkt im Stadtteil Mitte aufklärt: »Jede Zeit baut ihre Stadt.« Das bedeutet unter anderem, dass der Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt immer noch so heißt, aber nicht mehr dort steht, sondern an der Staatsoper Unter den Linden – und das auch nach der Weihnachtszeit, also noch am 30. Dezember. Mein Mann war fassungslos. Als Sachse hat er Prinzipien: Er lehnt es ab, vor Beginn der Adventszeit Dresdner Stollen zu essen. Ein Weihnachtsmarkt kurz vor Silvester und dafür bezahlen? Für ihn der Gipfel der Absurdität.

Zum Glück haben wir Freunde, die weniger prinzipienfest sind als wir. Eine jüdische Freundin, die alle Feste liebt, hat uns den Eintritt ins Weihnachtsparadies (zwei Euro pro Person) spendiert. Glühwein! Punsch! Ein riesiger Tannenbaum! Überall Sterne! Und Kunsthandwerk, so weit das Auge reicht!

Baumschmuck in Form von Davidsternen

Es gab Baumschmuck in Form von Davidsternen. Rot, weiß und golden. Am liebsten hätte ich alle auf einmal gekauft. Und Schwibbögen, sechszackige Schneeflocken und Engel mit goldenen Flügeln. Eine Idylle auf Vorrat. Aber die absolute Krönung war die Musik. Eine Tänzerin wiegte sich auf der Bühne hin und her und ließ Hula-Hoop-Reifen um ihre Hüften kreisen. Dazu sang sie den jiddischen Gassenhauer »Bey mir bistu scheyn!«.

Was lernen wir daraus? Dass religiöses Fremdgehen letztendlich doch zur Ursprungskultur zurückführt? Wie auch immer, ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, ob Christen, Juden, Muslimen oder Atheisten, ein gutes neues Jahr 2024 – und ab und zu ein Stückchen heile Welt.

Yael Van der Wouden

»Es ist doch eine Liebesgeschichte!«

Die Schriftstellerin über Sexszenen, queeres Begehren und ihren Debütroman, der für den Booker Prize nominiert war

von Ayala Goldmann  26.03.2025

Jens Biskky

Fünf Jahre reichten aus

Der Kulturwissenschaftler schreibt opulent und facettenreich über das Ende der Weimarer Republik

von Ralf Balke  26.03.2025

Esther Dischereit

Das Bild, das nicht entsteht

Der Roman »Ein Haufen Dollarscheine« ist eine Herausforderung

von Nicole Dreyfus  26.03.2025

Literatur

Schreiben ohne Zwang

Unsere Autorin glaubte, dass sie in Zeiten von Krieg und Rechtsruck ihre Reichweite für Aktivismus nutzen müsse. Dann entschied sie sich doch wieder für die Kunst

von Lana Lux  26.03.2025

Todestag

Meister des himmlischen Blaus

Der Maler Marc Chagall starb vor 40 Jahren

von Jens Bayer-Gimm  26.03.2025

Los Angeles

Seth Rogen rechnet mit Hollywood ab

Die hochkarätig besetzte Comedyserie »The Studio« nimmt Hollywood bissig ins Visier. Star-Komiker Seth Rogen hat darin prominente Unterstützung

von Barbara Munker  26.03.2025

Zahl der Woche

12.466.215 Kinotickets

Funfacts & Wissenwertes

 25.03.2025

Weimar

Hochschule benennt Aula nach jüdischer Kammersängerin

Die einst gefeierte jüdische Sängerin wählte am 7. April 1942 gemeinsam mit ihrer Nichte Edith Gál unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgung den Freitod

 25.03.2025

Fernsehen

Doku zum 100. Todestag zeigt fremde Gedankenwelt von Rudolf Steiner

Anlässlich seines hundertsten Todestags erinnert eine Arte-Dokumentation an Rudolf Steiner, den geschäftstüchtigen Begründer der Anthroposophie, und schlägt etwas bemüht den Bogen ins Tiktok-Zeitalter

von Manfred Riepe  25.03.2025