Jüdische Allgemeine

Dass nichts vergessen wird

Eröffnungstag des Auschwitz-Prozesses in Frankfurt, 20. Dezember 1963 Foto: picture alliance / AP Images

Heute würden Journalisten wohl von einem fetten »Scoop« sprechen: Gerade einmal sechs Monate nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Mai 1949 gab Bundeskanzler Konrad Adenauer am 11. November in seinem Arbeitszimmer Karl Marx, dem Herausgeber der 1946 ins Leben gerufenen »Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland«, ein Interview, das es in sich hatte.

Adenauer erklärte: »Die Bundesregierung beabsichtigt, dem Staat Israel Waren zum Wiederaufbau im Werte von 10 Millionen DM zur Verfügung zu stellen, und zwar als erstes unmittelbares Zeichen dafür, dass das den Juden in aller Welt von Deutschen zugefügte Unrecht wiedergutgemacht werden muss.«

Resonanz Das Erstaunen über und die Resonanz auf diesen Satz waren gewaltig. Und zwar international. Über 1250 Nachdrucke des Interviews soll es damals in der ganzen Welt gegeben haben. Denn zu diesem Zeitpunkt existierten zwischen dem jüdischen Staat und der jungen Bundesrepublik weder offizielle noch inoffizielle Kontakte. Zugleich wird in dem Artikel aus der Feder von Karl Marx, der dem Interview vorangestellt wurde, erstmals ein Begriff verwendet, der die Diskussion noch viele Jahrzehnte prägen sollte: »Wiedergutmachung«.

»Adenauers Aussagen in diesem Gespräch wurden folglich als erster Gradmesser für die zukünftige Politik des deutschen Staates angesehen und erfuhren als solche besondere Beachtung«, lautet das Urteil der Historikerin Andrea Sinn. »Zum anderen war dieses Interview die letzte große politische Aktion Marx’ vor der Gründung des Zentralrates der Juden in Deutschland, der ab 1950 als politische Interessenvertretung der Juden in Deutschland auftrat.«

In der Allgemeinen sprach der Kanzler erstmals von »Wiedergutmachung«.

Das Bemerkenswerte an der Geschichte: Das Interview mit Adenauer sowie der einleitende Artikel von Karl Marx erschienen erst am 25. November, also zwei Wochen nach dem Gespräch. Die privaten Aufzeichnungen des Herausgebers der »Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland« geben Aufschluss darüber, warum das der Fall war. Man hatte nämlich mit dem Bundeskanzler eine Sperrfrist vereinbart, um den ganzen Text zuvor der Regierung in Israel vorlegen zu können. Daraufhin erhielt ihr Herausgeber die Mitteilung aus Israel, dass die Regierung von David Ben Gurion »dieses Interview als Grundlage betrachtet und gegen seine Veröffentlichung nichts einzuwenden« ist.

Marx positionierte sich damit als eine Art Mittler zwischen Deutschen und Israelis mit besten Kontakten zu beiden Seiten, so die These von Andrea Sinn. Zwar lehnte ein Sprecher der israelischen Regierung die Offerte aus Bonn erst einmal ab – man bezeichnete sie offiziell gar als Affront, denn Adenauers Vorschlag liefe darauf hinaus, für jeden ermordeten Juden 1,66 DM zu zahlen. Aber die Themen Wiedergutmachung und Restitution waren nun auf dem Tisch, genauso wie ein vorsichtiges Herantasten zwischen Israel und der Bundesrepublik – und die »Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland« hatte ihren Anteil daran.

Rolle Zugleich war damit die Rolle des Blattes definiert. Es hatte sich dank dieses Interviews mit Adenauer zu einer wichtigen publizistischen Plattform für jüdische Belange in Deutschland gemausert. Karl Marx sorgte dafür, dass das so blieb und nicht nur Juden das Blatt lasen. Er verschickte regelmäßig Freiexemplare an alle relevanten politischen Entscheider auf Bundes- und Landesebene wie auch an Meinungsmacher in anderen Zeitungen. Das war seine Methode der Öffentlichkeitsarbeit, um im Nachkriegsdeutschland überhaupt ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Wiedergutmachung und Restitution zu schaffen.

Die Zeitung forderte die Bestrafung von NS-Verbrechern.

Adenauer hatte in seinem Gespräch mit Marx ebenfalls erklärt, dass »Verbrecher, die sich der Vernichtung von Menschenleben schuldig gemacht haben, … einer Amnestierung nicht würdig« sind, und dass sie »auch in Zukunft der ihnen zukommenden Strafverfolgung ausgesetzt sein« werden.

Genau das war aber im Nachkriegsdeutschland nicht der Fall. Der vielfach zögerlichen Haltung der Justiz bei der Ahndung von NS-Verbrechen und den zahlreichen Freisprüchen begegneten nicht nur die Juden in Deutschland mit Unverständnis und Entsetzen. Deshalb gehörte die »Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland« zu den lautesten Stimmen, die Kritik äußerten, wann immer Verfahren verschleppt wurden oder die Ermittlungsbehörden wieder einmal zum Jagen getragen werden mussten.

Rückzug Von einem »Rückzug der Justiz« sprach in einem Leitartikel im März 1955 entsetzt Hendrik George van Dam, damals Generalsekretär des Zentralrats. Zwar blieb man publizistisch immer am Thema, so wie der 2014 verstorbene Ralph Giordano, der für das Blatt mit Artikeln wie »Die Welt der Täter« vom August 1965 regelmäßig das Geschehen anlässlich des Auschwitz-Prozesses kommentierte.

Doch auch sein Fazit fällt am Ende seiner Arbeit ziemlich ernüchternd aus. In dem Beitrag »Zweite Schuld« vom November 2010 schreibt er: »Ob Auswärtiges Amt oder Finanzministerium: Sie alle haben dem ›Führer‹ gedient. Doch gerade die Schreibtischmörder blieben nahezu unbehelligt. Eine schwere Hypothek für die Bundesrepublik.«

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