Medizin

»An seine alten Erfolge konnte er nicht anknüpfen«

Die undatierte Aufnahme zeigt den jüdischen Arzt Ludwig Guttmann (1899–1980). Der vor dem Nazi-Terror geflüchtete Guttmann gilt als Vordenker der Paralympics. Foto: dpa

Medizin

»An seine alten Erfolge konnte er nicht anknüpfen«

Heute vor 80 Jahren entzogen die Nationalsozialisten jüdischen Ärzten die Approbation

von Elisa Makowski  25.07.2018 12:00 Uhr

Der Morgen nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 war wohl besonders hektisch: Unablässig werden Patienten in das Jüdische Krankenhaus Breslau eingeliefert. In diese Hektik platzt die Razzia der Gestapo.

»Wahrscheinlich nicht ganz überraschend«, ist sich Wolfgang Schmitt, pensionierter Radiologe aus Würzburg, sicher. Er erforscht die Diskriminierung jüdischer Ärzte in Breslau. Alle Ärzte des Krankenhauses mussten vor der Gestapo antreten, beschreibt er die Szene weiter. Unter ihnen war auch der Leiter der Strahlentherapie, Carl Fried.

Tageslicht Mit einer roten, verdunkelten Brille erschien er vor den »hohen Herren«, so habe Frieds Kollege Siegmund Hadda später die Szene beschrieben, sagt Schmitt. Nicht etwa aus »Respektlosigkeit«, wie die Gestapo Fried unterstellte, sondern um die Augen für die folgenden Röntgen-Untersuchungen empfindlich zu halten. Er wollte sie vor Tageslicht schützen.

Es war der 10. November 1938 – gut drei Monate nachdem die Nationalsozialisten jüdischen Ärzten die Approbationen entzogen hatten. Am 25. Juli war das diskriminierende Gesetz erlassen worden; am 30. September 1938 trat es in Kraft.

Hinter dem Berufsverbot stand der nationalsozialistische Wahn, dass die deutsche Ärzteschaft »verjudet« sei, wie es im NS-Jargon hieß, sagt Rebecca Schwoch, Historikerin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. 1933 galten von insgesamt circa 51.000 Ärzten im Deutschen Reich etwa 9000 als jüdisch.

Versorgung Die Nationalsozialisten standen bei der Diskriminierung und Vertreibung der jüdischen Ärzte vor einer für sie großen Herausforderung: Der Großteil der deutschen Kassenärzte waren Juden. Wenn man diesen auf einen Schlag verboten hätte, ihren Beruf auszuüben – wer sollte die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung gewährleisten?

Immer wieder mussten die Nazis Ausnahmen hinzufügen, damit sie das Gesundheitssystem nicht gefährdeten, beschreibt Schwoch das perfide System. »Von 1933 bis 1938 wechselten sich deshalb Verfolgung und strategische Ausbeutung der jüdischen Ärzte durch die Nationalsozialisten ab.« Vom 1. Oktober 1938 an gab es schließlich offiziell keine jüdischen Ärzte mehr. Fortan waren sie nur noch auf Antrag als sogenannte Krankenbehandler für jüdische Patienten zugelassen.

Die Jüdischen Krankenhäuser – wie zum Beispiel in Breslau, Berlin und Hamburg – habe man im Vergleich noch ein wenig in Ruhe gelassen, erklärt die Historikerin. »Das waren altehrwürdige Häuser mit sehr gutem Ruf und größtenteils nichtjüdischen Patienten.«

Zäsur Nach der Razzia am 10. November 1938 wurde aber auch das Jüdische Krankenhaus in Breslau nach und nach aufgelöst, sagt Schmitt. Für die drei jüdischen Ärzte Carl Fried, Siegmund Hadda und Ludwig Guttmann war der Tag eine tiefe Zäsur in ihrem Berufsleben.

Frieds Auszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg hätten ihm nichts genutzt, sagt Schmitt. Auch nicht, dass er sich große fachliche Anerkennung erworben hatte, weil er die Wirkungen von Röntgenstrahlen in kleinen Dosen auf Entzündungen erforschte.

Die Gestapo verhaftete ihn und brachte ihn in das Konzentrationslager Buchenwald, wo er bis Ende 1938 inhaftiert war. Die »Gnade«, ausreisen zu dürfen, wurde ihm im April 1939 gewährt. Zusammen mit seiner Frau Trude und den beiden Söhnen Rainer und Robert gelangte er vorerst nach New York.

Flucht Doch die Möglichkeiten, seine Familie zu ernähren, waren dort schlecht. Deshalb musste die Familie weiter nach Brasilien ziehen. Dort schrieb er zwar bald das Buch Fundamentos de Radium e Roentgentherapia (Grundlagen der Radium- und Röntgentherapie). »Doch an seine alten wissenschaftlichen Erfolge konnte er nicht anknüpfen. Sein deutsches Examen wurde in Brasilien nicht anerkannt – er durfte nicht einmal ein Rezept unterschreiben«, sagt Schmitt, der im Herbst ein Buch über Frieds Geschichte und Wirken veröffentlicht.

Auch Frieds Kollege Ludwig Guttmann, zu der Zeit ärztlicher Leiter des Krankenhauses, schaffte Anfang 1939 die Flucht nach Großbritannien. Dort entwickelte er neue Behandlungsmethoden bei Querschnittslähmung. Auftraggeber war zu Beginn die britische Luftwaffe, da schwere Verletzungen bei Piloten nach Bruchlandungen ein großes Problem darstellten. Guttmann gründete 1948 die Paralympics, wurde später geadelt und in vielen Ländern geehrt.

»Anders als Fried und Guttmann erging es Siegmund Hadda«, sagt Schmitt. Der Chefarzt habe schon früh beängstigende Dinge erlebt. Ein jüdischer Freund seines Sohnes wurde ermordet, der Täter nach kurzer Zeit begnadigt und aus der Haft entlassen. Seine Tochter Lotte wurde zum Verlassen des Gymnasiums gedrängt.

Schweiz Nach der Razzia harrte Hadda bis 1943 im Jüdischen Krankenhaus in Breslau aus und versorgte Kranke. Mit den letzten 18 Juden aus Breslau wurde das Ehepaar Siegmund und Hertha 1943 ins Ghetto Theresienstadt deportiert und gelangte von dort in einer geheimen Rettungsaktion im Februar 1945 in die Schweiz.

Exakte, unumstößliche Zahlen, wie viele jüdische Ärzte von den Nationalsozialisten ermordet wurden, werde es nie geben, sagt die Historikerin Schwoch. »Diejenigen, die 1945 nicht mehr da waren, sind emigriert, haben Suizid begangen oder wurden deportiert, von denen haben einige wenige überlebt.« Ganz wenige seien untergetaucht.

Siegmund Hadda arbeitete später noch viele Jahre als Chirurg in New York, sagt Schmitt. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Fried habe er Deutschland nie wieder besucht: »Ich würde in jedem Mann mittleren und höheren Alters den Mörder meiner Lieben vermuten.«

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