Interview

70 Jahre deutsch-jüdische Geschichte

»Die ganze Welt ruht auf der Zungenspitze«, lautet ein jüdisches Sprichwort. In der dritten Folge des Podcasts »Schon immer Tachles« des Zentralrats der Juden anlässlich seines 70. Bestehens bringt der Historiker Michael Brenner diese Welt gewaltig in Bewegung.

Im Gespräch mit Moderator Philipp Peyman Engel, Redakteur bei der »Jüdischen Allgemeinen«, begibt sich der Professor für Jüdische Geschichte und Kultur auf jüdische Spurensuche im Nachkriegsdeutschland. Migrationsgeschichte aus jüdischer Perspektive wird viel zu selten beleuchtet. Umso lehrreicher und auch überraschender ist dieses Gespräch, in dem sich individuelle und Gruppenschicksale kreuzen.

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Brenners Kindheitserinnerungen werfen ein Licht auf das Leben einer jüdischen Familie im katholischen Bayern, in Weiden in der Oberpfalz, um genau zu sein. Dass dies nicht nur eine biografische Petitesse ist, weiß jeder, der einmal einen Fuß in diese Gegend an der tschechischen Grenze gesetzt hat. Für Norddeutsche ist der dortige Dialekt so befremdlich wie der galizisch-jüdische Dialekt des Vorbeters in der Synagoge für Brenners Mutter Henny.

»MINI-SCHTETL« Das »Mini-Schtetl« in Weiden war fast ausschließlich von polnischen Holocaust-Überlebenden bevölkert. Henny Brenner aber war in der Dresdener Semper-Synagoge großgeworden, erzählt Brenner lachend, an die Provinz habe sie sich erst im hohen Alter gewöhnt. Aber was tut man nicht alles um der Liebe willen?

Der Zuzug in eine bayerische Kleinstadt ist da noch ein geringer Liebesbeweis im Vergleich zum Mut, den Hennys Vater bewiesen hatte. Hennys Held war immer der protestantische Vater gewesen. Der Vater beschützte Henny, die im Nazijargon als »nicht-privilegierter Mischling« galt, unter Aufbietung aller Kräfte und großen Verzichts. Vor Zwangsarbeit konnte aber auch er sie nicht schützen.

Der einzige Jude sei er in seiner Klasse nicht gewesen, sagt Brenner. Da sei ja immer auch noch das Kruzifix gewesen, das in jedem bayerischen Klassenzimmern hing.

Henny und Hermann Brenner waren Überlebende. Hermann wurde am 8.5. 1945 aus einem schlesischen Konzentrationslager befreit. Henny entkam der Deportation nur durch eine der »tragischen Ironien dieser Zeit«, der Bombardierung Dresdens.

HEIMAT Weiden war nun die Heimat, zwei Söhne wurden geboren. Michael Brenner besuchte eine Schule, in der der Rabbiner von »Amberg bis Bamberg« die kleinen Gemeinden unterrichtete. In der einzigen nicht-katholischen Klasse habe er mit einem evangelischen, einem jüdischen, einem persisch-muslimischen, neuapostolischen und einem »OB«, einem Kind ohne Bekenntnis, »interkonfessionellen Fußball gespielt«.

Brenner erzählt amüsiert von dieser Zeit und erwähnt auch das Kruzifix, das in bayerischen Klassenzimmern hing. Der einzige Jude sei er aus diesem Grund in seiner Klasse nicht gewesen, sagt Brenner. Der Moderator, ein Gespür für mögliche Diskriminierung, hakt nach: »Gab es Anfeindungen? Gab es christlichen Antisemitismus?«

Brenners Antwort ist klar: Nein, nichts habe er von christlich-katholischem Antisemitismus mitbekommen. Im Gegenteil seien die Lehrer »besonders freundlich zu jüdischen Schülern« gewesen, wobei allerdings genau diese Freundlichkeit vielleicht die Schatten der Vergangenheit überdecken mochten. Brenner zeigt Verständnis für die Skepsis der Eltern, die nur mit Vorsicht Freundschaften knüpften. Schließlich gehörten sie einer Generation an, in der die Mehrheit mit dem Nationalsozialismus »sympathisierte, um das milde auszudrücken«.

In den 90er-Jahren haben viele Deutsche beim Zuzug der Kontingentflüchtlinge wohl gedacht: »Jetzt kommen wieder alle Mendelssohns, Einsteins und Liebermanns.«

Michael Brenner

Ein Schlüsselerlebnis war für Brenner die Teilnahme an einem Schülerwettbewerb der Körber-Stiftung. Brenners Arbeit über die Geschichte der Weidener Juden vor 1933 wurde vom Bundespräsidenten prämiert. Der Berufsweg war vorgezeichnet. Brenner hatte seine Leidenschaft für die Geschichte des jüdischen Volkes entdeckt.

DP-Camps Der Moderator Philipp Peyman Engel spannt den Bogen von der Familiengeschichte zur Historie der Displaced Persons, die ebenfalls in Bayern angesiedelt waren. Das DP-Camp Föhrenwald steht im Fokus. Eine »Enklave jiddischsprachiger, aus Osteuropa stammender Holocaust-Überlebender« sei das gewesen, so Brenner, »mit eigenen Gesetzen in der Bundesrepublik« und einer »gewissen Autonomie«.

Gar nicht so einfach sei es gewesen, das Camp aufzulösen, nicht leicht gefallen sei es den Überlebenden, wieder unter Deutschen zu leben. Andererseits habe es auch Rückkehrer gegeben, überhaupt eine äußerst vielfältige Migrationsbewegung. Natürlich gab es die Auswanderungen in die USA und nach Israel. Es gab aber auch Rückkehrer aus Schanghai, Südamerika, aus Persien und Afghanistan.

Auch gesellschaftlich waren viele Schichten vertreten. Zu den Prominenten gehörten die Mitglieder der Frankfurter Schule, Horkheimer und Adorno, der einen jüdischen Vater hatte. In der DDR lebten Anna Seghers, Arnold Zweig und auch Gregor Gysis Vater, der ironischerweise Sekretär für Kirchenfragen war. Der Idealismus war lange Zeit ungebrochen, die Lust, eine demokratische oder auch sozialistische Gesellschaft aufzubauen, groß.

Amerikanische Juden fragten: »Wie könnt ihr denn auf dieser blutbefleckten Erde leben?«

Wie aber war die deutsche Wahrnehmung dieser jüdischen Einwanderer, fragt der Moderator. 1952/53 sei noch ganz »ganz massiver Antisemitismus zu spüren« gewesen sein. Osteuropäische Juden habe man »mit dem Schwarzmarkt« identifiziert. In den 90er-Jahren habe man wohl gedacht: »Jetzt kommen wieder alle Mendelsohns, Einsteins und Liebermanns.« 

Es kamen aber russischsprachige Juden, die zwar auch sehr gebildet waren, sich aber integrieren mussten, auch in jüdisches Leben. Einstimmig hatte sich der Bundestag aber für die »Quotenflüchtlinge« – eine unglückliche Formulierung! – entschieden.

SPANNUNGEN Aber auch innerjüdische Spannungen habe es gegeben. Amerikanische Juden fragten: »Wie könnt ihr denn auf dieser blutbefleckten Erde leben?« Man schämte sich als ostdeutscher Jude, hier zu leben. Es gab Streitigkeiten auch um orthodoxe oder liberalere Riten, auch um Besitztümer.

Philipp Peyman Engel zieht - und das macht den Reiz des Gesprächs aus – eine Parallele zur Gegenwart. Als hip gelte Berlin bei jungen Israelis heute. Welche Motivation aber hätten israelische Juden in den 70er-Jahren gehabt, nach Deutschland zu kommen? Brenner spricht vom »Reiz, von der verbotenen Frucht zu essen«. Israelische Pässe hätten in den 50er-Jahren schließlich noch den Stempel getragen: »gültig für alle Länder mit Ausnahme von Deutschland«.

Aus welchem Grund kamen in den 70er-Jahren Israelis nach Deutschland? Brenner spricht vom »Reiz, von der verbotenen Frucht zu essen«.

Und heute, Zweifel klingt in Engels Stimme an, wie ist der Status quo jüdischen Lebens in Deutschland heute? Brenners Antwort ist optimistisch und pessimistisch zugleich: Deutschland ist und bleibe für die jüdische Gemeinschaft selbstverständlich die Heimat. Es herrsche allerdings auch »ein Klima, das manchen Juden überlegen lässt, ob es eine Zukunft hier für ihn geben kann.« In den Köpfen deutscher Juden seien »die Koffer wiederaufgetaucht«.

Der Podcast endet mit einem Fragezeichen und mit der Lust, noch mehr zu hören und vor allem zuzuhören, den Überlebenden und den Wandernden.

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