Franz Kafka

»Kafkaesk gehört zu meinem Aktivwortschatz«

Naomi Lubrich

Franz Kafka

»Kafkaesk gehört zu meinem Aktivwortschatz«

Naomi Lubrich, die Direktorin des Jüdischen Museums der Schweiz in Basel, über die Absurdität der Bürokratie bei Kafka

von Nicole Dreyfus  30.05.2024 12:09 Uhr

Frau Lubrich, was bedeutet für Sie »kafkaesk«?
Zunächst verstehe ich den Begriff als etwas, das die Absurdität der Bürokratie beschreibt. Das Kafkaeske macht das Leben nicht einfacher, sondern schwieriger. Alles, was dieses Ausgeliefertsein gegenüber der Bürokratie darstellt, diese Ausweg- und Sinnlosigkeit, fassen wir unter diesem Begriff. Das geht bis hin zu Formularen, die man auszufüllen hat, ohne sie zu verstehen, wenn man einen Pass beantragen oder ein Konto schließen möchte, oder diese endlosen Datenverarbeitungssysteme von Firmen im Internet, die an ihre Grenzen kommen und den Nutzer hilflos hinter dem Bildschirm zurücklassen – all das nimmt kafkaeske Züge an.

Finden Sie, dass der Begriff im heutigen Sprachgebrauch inflationär verwendet wird?
Nein, gar nicht. Denn er trifft genau jene Absurdität der Alltagserfahrungen, die wir mit dem Verwaltungswesen machen, und dieses beklemmende Gefühl, wenn man sich darin verloren fühlt. In dieser wie in anderer Hinsicht war Franz Kafka sehr hellsichtig. Er fing Erfahrungen und Situationen so genau sprachlich ein, dass sie bis heute nichts an ihrer Brisanz eingebüßt haben. »Kafkaesk« gehört zu meinem Aktivwortschatz. Ich nutze den Begriff mit Sicherheit einmal in der Woche, wenn nicht mehr.

Sie sprechen die Aktualität im Werk Kafkas ein. Wie sind seine Texte aus heutiger Warte zu lesen?
Kafkas Aktualität sieht man zum Beispiel im Roman »Who the Fuck is Kafka« von Lizzy Doron. Die Geschichte handelt vom israelisch-palästinensischen Dilemma und von den absurden Hindernissen, welche die Kunst lahmlegen. Kafka, den Juden verehren und Palästinenser nicht kennen, wird hier zu einer Metapher für den Nahostkonflikt, für das Aneinandervorbeireden in einer Sackgasse.

War Franz Kafka zukunftsweisend?
Auf jeden Fall. Er beobachtete scharf und sah antisemitische Tendenzen, ohne sie direkt zu benennen. In der »Verwandlung« zum Beispiel wird die Hauptfigur zu einem Schädling – eine Metapher, die Antisemiten und später die Nazis verwendeten. Im »Process« wird der Protagonist verurteilt und zur Hinrichtung geführt, ohne schuldig zu sein und verstehen zu können, was man ihm vorwirft. In der »Strafkolonie« wird die industrielle Folter und Tötung vor Augen geführt.

Worin sehen Sie das Meisterhafte an diesen Texten?
Der Schriftsteller hat den öffentlichen Diskurs wahrgenommen und zu Geschichten verarbeitet, die viele Leser bis heute bewegen. Für die Schrecken des modernen Lebens, das aus Menschen Behördengänger macht, fand er eine Sprache. Das war originell und erhellend. Dafür hat er zu Recht seinen Platz im literarischen Kanon erhalten.

Sie sind Direktorin des Jüdischen Museums der Schweiz. Begegnen Sie Franz Kafka auch inhaltlich in ihrem Berufsalltag?
Kafka spielt in der jüdischen Museologie eine große Rolle. Man begegnet ihm im Hinblick auf verschiedene Themen. Er hat sich in seiner ganz eigenen Weise zum Zionismus, zum Talmud und zum Jiddischen geäußert. Meine Kolleginnen und ich zitieren ihn sehr gerne in Ausstellungen und Büchern. Er ist prägnant und fasst seine Ideen in wenigen Worten zusammen. Und er hatte Humor.

Wird das Jüdische dadurch nicht zu sehr »kafkaisiert«?
Als Kafka-Leserin freue ich mich natürlich, wenn er so breit rezipiert wird, und wenn 100 Jahre nach seinem Tod seine Ansichten zu jüdischen Themen noch so viel Gehör finden. Kafka hat dem Tourismus in Prag ein jüdisches Gesicht, eine jüdische Geschichte gegeben: kaum ein Souvenirshop ohne Kafka auf Tassen und Magneten. Er wird aber auch von der Stadt vereinnahmt, wie Anne Frank in Amsterdam.

Wie sehr ist sein Werk politisch?
Politisch ist vor allem der Umgang mit Kafkas Nachlass. Dass man sich vor Gericht um ihn stritt, war alles andere als Kafkas letzter Wille. Diese komplizierte juristische Handhabung, die von Max Brod zu Ilse Esther Hoffe und ihren Töchtern über das Literaturarchiv in Marbach bis hin zum Staat Israel ging, ist selbst kafkaesk.

Inwiefern finden Sie, sein Werk sei biografisch zu verstehen?
Es gibt die Auseinandersetzung mit dem Vater und mit dem Judentum. Das ist alles in seinen Texten wiederzufinden. Aber mich interessiert die Kunst mehr als der Künstler, der sie geschaffen hat. Kafkas Texte sprechen für sich. In dem Augenblick, in dem er ihn veröffentlicht, gibt der Autor seinen Text zur Interpretation frei. Das war auch bei Kafka so, obwohl er nicht wollte, dass seine Werke der Nachwelt erhalten blieben.

Mit Naomi Lubrich sprach Nicole Dreyfus.

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