Ungarn

Hass im Hohen Haus

Jobbik-Plattform: Parlament in Budapest Foto: dpa

Ungarn

Hass im Hohen Haus

Offener Antisemitismus erobert zunehmend die politische Bühne

von Karl Pfeifer  24.04.2012 07:54 Uhr

Bislang war es nahezu unvorstellbar, dass Parlamentarier in einem EU-Land Ritualmordlegenden aufwärmen. Doch genau dies geschah Anfang des Monats, wenige Tage vor Pessach und zum ersten Mal seit 1944 in Budapest.

Der Abgeordnete Zsolt Baráth von der rechtsextremen Jobbik-Partei erinnerte in einer Rede im Parlament an eine Anklage, die sich zum 130. Mal jährte. 1882 wurden 15 Juden beschuldigt, die 14-jährige Eszter Solymosi ermordet zu haben, um ihr Blut für das bevorstehende Pessachfest zu benützen.

Baráth erklärte dazu: »Wir müssen Anklage erheben gegen den Geist, der sich seitdem ständig im Karpatenbecken in unserem Leben manifestiert.« Der Richter hätte 1884 »aufgrund äußeren Druckes den Freispruch verkünden« müssen, so Baráth. Um seinen Standpunkt zu bekräftigen, zitierte er einen Pfeilkreuzler, der sich seinerzeit über »die Macht der Welteroberer« – er meinte damit die Juden – ausgelassen hatte.

Hetzreden Als während der Prozesse vor 130 Jahren derartige Hetzreden im Parlament gehalten wurden, hatte sich die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten heftig dagegengestellt. Doch Anfang April 2012 meldete sich lediglich Staatssekretär János Fónagy zu Wort. Er sagte: »Mit dieser Rede hat sich Jobbik dort eingereiht, wo viele sie verorten.« Dass Fónagy allerdings nicht wusste, ob er im Namen der Regierung spricht oder nur in seinem eigenen, zeigt die große Angst der Regierungspartei Fidesz, klar auszusprechen, was für eine Partei Jobbik ist.

Erst zwei Tage nach Baráths antisemitischen Ausfällen raffte sich ein Ministerium auf, eine distanzierende Pressemitteilung herauszugeben. Und es brauchte gan- ze acht Tage, bis Ministerpräsident Viktor Orbán der jüdischen Minderheit versprach, sie zu verteidigen.

Antisemitismus scheint in Ungarn, 68 Jahre nach der Deportation von Hunderttausenden Staatsbürgern nach Auschwitz-Birkenau, wieder ein Mittel der Politik zu sein, das offen und explizit auch im Parlament eingesetzt wird. Und die Regierungspartei Fidesz hält sich meistens zurück oder distanziert sich nur äußerst halbherzig, um Jobbik den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Dann lässt man sich von Persilscheingebern bestätigen, dass Minderheiten in Ungarn nicht bedroht werden, während die Hetze ungezügelt weitergeht.

Schon Ende Januar wurden auf einer von Zsolt Bayer, einem Freund von Premier Orbán, organisierten Demonstration antisemitische Transparente hochgehalten. Nachdem die österreichische Grünen-Politikerin Ulrike Lunacek in einer Rede im EU-Parlament darauf hinwies, wurde sie von Zsolt Bayer im ungarischen Fernsehsender »Echo TV« unflätig beschimpft: »Nun kommt da so eine gehirnamputierte, grindige Idiotin an.«

Die Regierungspartei versucht, Wähler zurückzugewinnen, die zu Jobbik übergelaufen sind. Sie führte einen Trianon-Gedenktag ein, der an die Gebietsabtrennungen von 1920 erinnern soll, und entfernte ein Standbild des 1918 amtierenden republikanischen Ministerpräsidenten Mihály Károlyi.

beifall Ein weiterer spektakulärer Fall ereignete sich im August 2011. Damals fragte Zsolt Tyirityán, der Chef des sogenannten Betyaren-Heers, einer der mit der Jobbik-Partei verbündeten uniformierten Garden, auf einer Neonazi-Zusammenrottung: »Werden wir es wagen, einen elenden, lausigen Juden niederzuschießen?« Mehrere aus der versammelten Meute antworteten ihm mit: »Ja, das werden wir!« und erhielten dafür Beifall.

Die ungarische Polizei begann zwar, den Vorfall zu untersuchen, stellte die Ermittlungen Anfang April aber wieder ein. Zur Begründung heißt es: Man konnte keine Straftat feststellen. Zur Gewalt aufrufender Antisemitismus fällt im heutigen Ungarn in die Kategorie von Gedanken, die vom Recht auf die freie Meinungsäußerung geschützt werden.

Das ist eine äußerst gefährliche Politik in einem Land, in dem die Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung sich in den zwei Jahren Fidesz-Regierung rapide verschlechtert haben und Hoffnungslosigkeit – insbesondere in der Jugend – um sich greift.

USA

Die Social-Media-Bändigerin

Die pro-israelische Influencerin Montana Tucker liefert Lehrstücke der modernen Kommunikation im Akkord. Zeit, sich die junge Frau, die mit Tanzvideos berühmt wurde, genauer anzusehen

von Sophie Albers Ben Chamo  26.06.2025

Balkan

Bosnien entschuldigt sich bei Rabbinerkonferenz

Über eine Tagung der Europäischen Rabbinerkonferenz in Sarajevo kam es zum judenfeindlichen Eklat. Mit der jetzt erfolgten Entschuldigung ist der Fall indes noch nicht bereinigt

 26.06.2025

USA

BDS-Ideologe als Bürgermeister?

Zohran Mamdani bewirbt sich mit radikalem Programm, anti-israelischer Rhetorik und Aktivisten-Habitus um New Yorks höchstes Amt

von Mark Felton  25.06.2025

Offener Brief

Sie stehen auf der falschen Seite, Herr Wermuth

Rabbiner Jehoschua Ahrens kritisiert Cédric Wermuth, Co-Präsident der Schweizer Sozialdemokraten, für seine Haltung zur Gaza-Demonstration am vergangenen Samstag in Bern

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  25.06.2025

Meinung

Nichts als Fußball spielen!

Wie das Grümpelturnier von Maccabi Schweiz in Zürich für Ablenkung sorgt: Betrachtungen einer jüdischen Amateur-Fußballerin

von Nicole Dreyfus  24.06.2025

Ukraine

Auf allen Kanälen

Anna Ukolova ist die russischsprachige Stimme der israelischen Armee. Ein Interview über Blogger, anti-israelische Propaganda und das Leben als Einwanderin

von Eugen El  18.06.2025

Imanuels Interpreten (10)

Kenny G: Das Enfant Terrible des Jazz

Er ist der erfolgreichste Instrumentalmusiker – und der meistgehasste. Warum eigentlich?

von Imanuel Marcus  17.06.2025

Krieg in Israel

Rabbiner: Unterstützung für gestrandete Israelis in Europa

Sie können momentan nicht nach Israel zurück. Jüdische Gemeinden in Europa sind gebeten, sie mit Unterkünften und anderem zu unterstützen. In Gemeinden herrscht unterdessen große Besorgnis, auch wegen der Sicherheit

von Leticia Witte  16.06.2025

Nachruf

Der Lippenstiftverkäufer

Leonard Lauder, der aus dem von seinen Eltern gegründeten Kosmetikunternehmen Estée Lauder einen Weltkonzern machte, ist im Alter von 92 Jahren gestorben

von Michael Thaidigsmann  16.06.2025