Frankreich

Der Täter war zu allem fähig – nur nicht zur Schuld

Demonstration für Sarah Halimi (Paris, 2020) Foto: picture alliance / abaca

Frankreich

Der Täter war zu allem fähig – nur nicht zur Schuld

Die jüdische Gemeinde ist entsetzt über das Urteil des Obersten Berufungsgerichts im Mordfall Sarah Halimi

von Ute Cohen  22.04.2021 09:05 Uhr

Es gibt Taten, die den Glauben an irdische Gerechtigkeit versiegen lassen. Vier Jahre ist es her: Im April 2017 war die pensionierte jüdische Ärztin Sarah Halimi von dem 27-jährigen Kobili Traoré grausam malträtiert und unter Allahu-Akbar-Schreien vom Balkon ihrer Pariser Wohnung gestürzt worden.

Der Täter, ein aus Mali stammender drogenabhängiger Dealer, wurde zwar der vorsätzlichen Tötung angeklagt, jedoch wegen einer durch starken Cannabis-Konsum bedingten Psychose für schuldunfähig erklärt. Den Einspruch der Angehörigen des Opfers wies das Oberste Berufungsgericht vergangene Woche zurück.

Die jüdische Gemeinde ist in Aufruhr. Haïm Korsia, Frankreichs Oberrabbiner, findet die Entscheidung »schockierend«. Sarah Halimis Bruder, William Attal, rekonstruierte im französischen Fernsehen den Tathergang und bezichtigte Polizei und Justiz unsauberer Arbeit.

Moschee Vieles ist dubios an diesem Fall: Der Täter hatte sich in einer salafistischen Moschee radikalisiert. Zum Tatzeitpunkt behauptete er gegenüber den Polizisten sogar, Sarah Halimi habe versucht, Selbstmord zu begehen. Ein Interview des psychiatrischen Gutachters Paul Bensussan in der Zeitung »Marianne« sorgte für zusätzliche Unruhe: »Es war das Verbrechen eines Verrückten, aber seine Tat war antisemitisch, denn in seinem Wahn identifizierte er die Juden mit dem Teufel.«

Traoré ist weiterhin in der Psychiatrie untergebracht. Eine Entlassung bedarf eines komplexen gutachterlichen Nachweises, dass er keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darstellt.

Haïm Korsia, Frankreichs Oberrabbiner, findet die Entscheidung »schockierend«.

Patrice Spinosi, Traorés Anwalt, bezeichnete das Urteil des Kassationsgerichts als eine »Entscheidung der Vernunft«. Ein Kranker darf in einem Rechtsstaat nicht vor Gericht gestellt werden. Krankheiten aber sind nicht zeitlos; auch sie sind dem Wandel der Fachgebiete unterworfen. So ist die »bouffée délirante«, der psychotische Schub, der bei Traoré diagnostiziert wurde, ein altertümlicher Begriff. 1866 wurde er erstmals von dem Psychiater Valentin Magnan, einem Vertreter der Degenerationstheorie, eingeführt.

Skeptisch stand dieser Fachrichtung Sigmund Freud gegenüber, nicht zu Unrecht, wie sich später herausstellen sollte. Die Nazis beriefen sich in ihrer Eugenik auf besagte Degenerationstheorien. Heute spricht man eher von kurzen psychotischen Störungen und betont die Umweltfaktoren.

Gewalt Welche Umwelteinflüsse bezüglich Traoré noch geltend gemacht werden, wird sich erweisen. Frankreich ist zerrissen zwischen einer laizistisch-universalistischen Weltsicht und teils offen antisemitischen identitären Strömungen. Radikale Gruppen der Antirassismus-Bewegung kritisieren vehement Polizeigewalt und sehen in Juden Verbündete eines strukturell rassistischen Staates.

So forderte Aissa Traoré, eine führende antirassistische Aktivistin, 2018: »Wenn in Afrika das Volk einen Präsidenten zu Fall bringen will, dann gehen sie einfach zum Palast und übernehmen ihn.« Warum sollte das in Frankreich anders sein, fragte sie weiter.

Deshalb und genau deshalb geht der Fall Sarah Halimi das ganze französische Volk an. Die Republik steht auf dem Spiel. Rache und Furor dürfen sie nicht regieren.

Eine letzte Hoffnung bleibt: Eine der Anwältinnen der Familie Halimi hat angekündigt, den Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen. Der französische Staatspräsident Ma­cron setzte selbst ein erstes Zeichen der Ermutigung, indem er eine Gesetzesänderung in die Wege zu leiten versucht. Er ließ verlauten: »Die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist Sache der Richter, Antisemitismus aber ist die Angelegenheit der Republik.«

Großbritannien

Warten auf »Bridgerton«

Die Sehnsucht nach der vierten Staffel des Netflix-Hits ist groß. Aber wie war eigentlich das reale jüdische Leben in der Regency?

von Nicole Dreyfus  29.06.2025

Glastonbury Festival

Kritik an antiisraelischen Parolen

Neben der Musik sorgt Hetze gegen Israel für Aufsehen – mit Folgen für die BBC, die alles live übertragen hat

 29.06.2025

Glastonbury

Bob Vylan ruft »Death, death to the IDF« – BBC überträgt es

Beim größten Open Air Festival Großbritanniens rufen Musiker antiisraelische Parolen

 28.06.2025

Militär

Name des schwulen Bürgerrechtlers Harvey Milk von US-Kriegsschiff gestrichen

Das nach Milk benannte Versorgungsschiff heißt jetzt »USNS Oscar V. Peterson«

 28.06.2025

Meinung

Francesca Albaneses Horrorshow

Die UN-Berichterstatterin verharmlost den Hamas-Terror und setzt die Israelis mit den Nazis gleich. Mit ihren Ansichten tourt sie nun durch die Schweiz

von Nicole Dreyfus  27.06.2025

Aufarbeitung

Brasilien entschädigt Familie von jüdischem Diktaturopfer

Vladimir Herzog gehört zusammen mit dem ehemaligen Abgeordneten Rubens Paiva zu den bekanntesten Diktaturopfern

 27.06.2025

Buenos Aires

Anschlag auf Juden in Argentinien: Prozess nach mehr als 30 Jahren

Am 18. Juli 1994 waren beim Anschlag auf das jüdische Kulturzentrum AMIA 85 Menschen getötet und mehr als 300 verletzt worden

 27.06.2025

USA

Die Social-Media-Bändigerin

Die pro-israelische Influencerin Montana Tucker liefert Lehrstücke der modernen Kommunikation im Akkord. Zeit, sich die junge Frau, die mit Tanzvideos berühmt wurde, genauer anzusehen

von Sophie Albers Ben Chamo  26.06.2025

Balkan

Bosnien entschuldigt sich bei Rabbinerkonferenz

Über eine Tagung der Europäischen Rabbinerkonferenz in Sarajevo kam es zum judenfeindlichen Eklat. Mit der jetzt erfolgten Entschuldigung ist der Fall indes noch nicht bereinigt

 26.06.2025