Frankreich

Chef in Sicht

Aussichtsreicher Kandidat: Militärrabbiner Haïm Korsia Foto: dpa

Die jüdische Gemeinde Frankreichs wählt am 22. Juni für sieben Jahre einen neuen Oberrabbiner. Neun Kandidaten – so viele wie noch nie – stellen sich zur Wahl. Die 316 Mitglieder der Wahlkommission des Zentralkonsistoriums werden entscheiden, wer Frankreichs Juden in den kommenden sieben Jahren spirituell führen wird.

Unter den Wahlmännern und -frauen sind vor allem Gemeindepräsidenten, aber auch Oberrabbiner der regionalen Konsistorien. Je größer eine Gemeinde ist, desto mehr Sitze hat sie in der Wahlkommission, im Falle von Paris sind es 60. Der Oberrabbiner des Landes wird wie der französische Präsident nach dem Mehrheitswahlrecht bestimmt: Im ersten Durchgang benötigt er die absolute, im zweiten die relative Mehrheit.

Affäre Der Posten ist seit mehr als einem Jahr vakant. Damals trat Gilles Bernheim wegen einer Plagiatsaffäre vom Amt des Oberrabbiners zurück, und die Wahl eines Nachfolgers wurde immer wieder verschoben. Bernheim hatte unter anderem eingestanden, den prestigeträchtigen Titel eines »Agrégé« im Fach Philosophie geführt zu haben, ohne die entsprechende Prüfung bestanden zu haben. Er war ein brillanter Redner, machte in den Medien eine gute Figur und hat nach wie vor viele Anhänger in der Gemeinde.

Einen echten Wahlkampf in der Öffentlichkeit gab es diesmal nicht. Das Konsistorium legte Wert auf Diskretion und verbot Werbung in jüdischen Medien. Auf Facebook kündigt nur ein Kandidat, Alain Senior, Rabbiner der Gemeinde in Créteil bei Paris, seine Bewerbung an. Nach Bernheims Rücktritt sehnen sich viele nach einer Persönlichkeit, die zur Stimme des Judentums auch in der Öffentlichkeit werden soll. Für die jüdische Gemeinde im Land sprechen derzeit oft der Repräsentative Rat der Jüdischen Einrichtungen Frankreichs (CRIF) und sein Präsident Roger Cukierman. Dies gilt vor allem, wenn es um Antisemitismus geht. Das Zentralkonsistorium ist jedoch seit 2004 nicht mehr Mitglied im CRIF.

Skandal Der neue Rabbiner wird es nicht leicht haben: Zum einen hat sein Vorgänger das Ansehen des Amtes beschädigt, heißt es. »Die Funktion des Oberrabbiners muss neu erfunden werden, durch den Skandal um Bernheim hat der Posten seine Glaubwürdigkeit eingebüßt«, sagt ein führendes Mitglied der Gemeinde. Zum anderen grassieren in Frankreich Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Die Verhaftung des Franzosen Mehdi Nemmouche (29), der verdächtigt wird, Ende Mai einen tödlichen Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel verübt zu haben, hat die Juden Frankreichs aufgewühlt.

Der Kandidat Yoni Krief, derzeit Rabbiner von Nantes, meint, die »Aufgabe des Oberrabbiners sei es, zu zeigen, dass sich die jüdische Gemeinde mit den Idealen der Republik identifiziert und dass sie zum kollektiven Wohlergehen beitragen soll. Seine Botschaft sollte eine des Friedens und der Freundschaft sein«.

»Der neue Oberrabbiner muss ein Mann der Einheit sein, mit dem sich jedes Gemeindemitglied gern identifiziert«, erklärte der Kandidat David Shoushana, Rabbiner im Département Val-de-Marne, in einem Interview. Manche Juden halten es für gut, dass sich so viele Bewerber zur Wahl stellen: Dies sei ein Beleg für die Dynamik der Gemeinde. Andere glauben, dass das ihre Zerrissenheit unterstreicht: »Das zeigt, dass derzeit keine Persönlichkeit heraussticht«, bedauert ein anderes Mitglied. Es gibt jedoch Gemeinsamkeiten zwischen den Kandidaten: Alle haben ihre Ausbildung am orthodoxen französischen Rabbinerseminar absolviert.

favoriten Einer der Favoriten ist der Direktor des Seminars, Olivier Kaufmann. Er gilt als junger Aufsteiger, auch wenn es in der Öffentlichkeit bisher still um ihn war. Seit einem Jahr übt er gemeinsam mit dem Pariser Oberrabbiner Michel Gugenheim das Amt des französischen Oberrabbiners kommissarisch aus. Gugenheim zog vor wenigen Wochen seine Kandidatur zurück. Vermutlich hängt dies mit der Affäre um Erpressung bei einem Scheidungsprozess zusammen, die kürzlich ans Licht gekommen war – ein Vorfall, der sich wie eine Kriminalgeschichte liest.

Am 28. März erscheint eine 28-jährige Jüdin vor dem Pariser Beit Din, um ihre Scheidung zu erwirken, auf die sie bereits seit fünf Jahren wartet. Sie filmt den Prozess mit versteckter Kamera: Das Gericht, zu dem auch Gugenheim gehört, fordert von ihr einen Scheck über 90.000 Euro. Davon sollen 30.000 Euro dem Ehemann und der Rest dem Verein für schulische Institutionen »Egged Sinaï« zugutekommen. Zudem berichtet die Frau, habe man sie zwingen wollen, einige ihrer vor Zivilgerichten gemachten Aussagen zu widerrufen. »Das ist der Preis der Freiheit«, wird Gugenheim zitiert.

Bisher lehnt das Zentralkonsistorium eine interne Untersuchung ab, man spricht von einem »Komplott«. Jedenfalls könnten die Vorgänge auch Kaufmanns Chancen auf das Amt beeinträchtigen.

Medien
Viele Juden können sich auch Haïm Korsia, den früheren Rabbiner von Reims und heutigen Militärrabbiner, gut als Oberrabbiner vorstellen. Er hat bereits mit Bernheim und vor allem mit dessen Vorgänger Joseph Sitruk zusammengearbeitet. Zumindest wäre die Medienpräsenz der Gemeinde durch ihn gesichert: Er trat häufig im Fernsehen auf und ist auch außerhalb jüdischer Kreise bekannt.

Ansonsten könnten sich vielleicht noch Alain Senior, der Rabbiner von Créteil, sowie der Metzer Rabbiner Bruno Fiszon Chancen auf das Amt ausrechnen. Fiszon ist Tierarzt und ein angesehener Schächtexperte. Das Konsistorium selbst wünscht sich auf jeden Fall eine Person, die ebenso »solide wie populär« ist. Der 22. Juni wird also ein spannender Tag für Frankreichs Juden.

Medienbericht

Katar soll mutmaßliches Missbrauchsopfer von Karim Khan ausspioniert haben

Das Emirat scheint sich in den Skandal um den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs eingemischt zu haben, wie Recherchen nun zeigen

 07.11.2025

Kommentar

In Zohran Mamdanis New York werden Juden geduldet, nicht akzeptiert

»Liberale Zionisten« müssen in der Regierung des neuen Bürgermeisters keinen »Lackmustest« fürchten. Was beruhigend klingen soll, zeigt, wie stark der Antisemitismus geworden ist - nicht zuletzt dank Mamdani

von Gunda Trepp  07.11.2025 Aktualisiert

Hurrikan Melissa

»Ich habe seit einer Woche nicht geschlafen«

Wie ein Rabbiner vom Wirbelsturm in Jamaika überrascht wurde – und nun selbst Betroffenen auf der Insel hilft

von Mascha Malburg  06.11.2025

Kommentar

Wo Israel antritt, rollt der Ball ins moralische Abseits

Israelische Spieler und Fußballfans werden schon lange dafür diskriminiert, dass sie von anderen gehasst werden.

von Louis Lewitan  06.11.2025

Kommentar

Warum Zürichs Entscheid gegen die Aufnahme von Kindern aus Gaza richtig ist

Der Beschluss ist nicht Ausdruck mangelnder Menschlichkeit, sondern das Ergebnis einer wohl überlegten Abwägung zwischen Sicherheit, Wirksamkeit und Verantwortung

von Nicole Dreyfus  06.11.2025

New York

ADL will Mamdani unter Beobachtung stellen

Die Anti-Defamation League erwartet vom neugewählten New York Bürgermeister nichts Gutes. Jetzt hat die jüdische Organisation angekündigt, man werde genau hinschauen

 05.11.2025

Amsterdam

Wegen IDF-Kantor: Concertgebouw sagt Chanukka-Konzert ab

Die renommierte Musikhalle hat wegen des geplanten Auftritts von IDF-Chefkantor Shai Abramson das alljährliche Konzert abgesagt. Die jüdische Gemeinschaft ist empört und will gegen den Entscheid klagen

von Michael Thaidigsmann  05.11.2025 Aktualisiert

Essay

Mamdanis demokratische Steigbügelhalter

Führende Politiker der Demokraten haben aus Opportunismus die Wahl des Israel-Hassers Zohran Mamdani zum New Yorker Bürgermeister ermöglicht - und so in Kauf genommen, dass aus Worten gegen Israel wieder Gewalt gegen Juden werden könnte

von Menachem Z. Rosensaft  05.11.2025

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025