Großbritannien

Befreiung als Lebenssinn

»Ich weiß nicht, ob wir je ganz befreit sein werden«: Menschenrechtsanwältin Harriet Wistrich Foto: DANIEL ZYLBERSZTAJN

Obwohl sie nie Pessach feierten, waren meine Eltern mit ihren säkularen Ansichten ganz und gar kulturell jüdisch», sagt Harriet Wistrich. Die 58-Jährige ist eine der führenden britischen Menschenrechtsanwältinnen und bezeichnet sich selbst als radikale Feministin.

Gerade habe sie ihre hochbetagte Mutter Enid besucht, sagt sie. «Sie wird langsam vergesslich», urteilt sie über die alte Dame, eine emeritierte Politologieprofessorin.

Ihr Vater, Ernest Wistrich, starb bereits vor vier Jahren. Er war lange Zeit Direktor des European Movement, eines europaweiten Zusammenschlusses von Organisationen, das ein vereintes, föderales Europa fördern möchte.

Beide Eltern brachten sich in Großbritannien vor dem Holocaust in Sicherheit. Harriet Wistrich wuchs im gutbürgerlichen Nordlondoner Viertel Hampstead auf, als mittlere Tochter von drei Geschwistern. Ihr älterer schwerbehinderter Bruder Matthew starb im Alter von 14 Jahren, während ihr jüngerer Bruder Daniel heute in Israel orthodox jüdisch lebt. Es ist Harriet, die am ehesten dem Leben ihrer politischen Eltern folgt.

Missbrauch So wird sie 1991 Mitbegründerin der Hilfsgruppe «Justice for Women» und später Gründerin des Zentrums für Frauenrechte, beides Organisationen, die Frauen rechtlich beistehen.

Schon am Anfang setzte sie sich für einen Fall ein, der später in die britische Rechtsgeschichte einging. Emma Humphreys hatte nach Jahren körperlichen und mentalen Missbrauchs als 17-Jährige ihren brutalen Zuhälter getötet und wurde wegen Mordes verurteilt.

Sie bezeichnet 
sich selbst als 
radikale Feministin.

Wistrich und die anderen Mitglieder der Gruppe, darunter ihre Lebenspartnerin Julie Bindel, legten gegen das Mordurteil Berufung ein. 1995 wurde Humphreys aufgrund ihres Einspruchs freigesprochen.

Doch Humphreys blieb auch in der Freiheit Gefangene. Eine Gefangene ihrer dramatischen Erlebnisse. Sie beging Suizid und hinterließ ein Tagebuch. Auf dessen Grundlage schrieben Wistrich und Bindel ein Buch über Humphreys Leben.

Mit diesem und ähnlichen Fällen im Hintergrund entschloss sich Wistrich nach Abschluss ihres Politik-, Philosophie- und Wirtschaftsstudiums in Oxford, Jura zu studieren, und wurde 1995 Anwältin.

Die von ihr seitdem geführten Fälle deuten auf eine Welt, in der Frauen immer wieder zu stummen Opfern wurden: von Gewalt im Eigenheim oder von Vergewaltigungen durch Wärter in Abschiebungszentren. In anderen Fällen waren es Frauen, mit denen britische polizeiliche Spione im Einsatz ein sexuelles Verhältnis hatten, ja sogar Kinder zeugten, und Frauen, die Opfer eines berüchtigten Londoner Taxifahrers wurden, der sechs Jahre lang unertappt Frauen belästigte und vergewaltigte. Heute sitzt er mithilfe Wistrichs hinter Gittern. Außerdem vertrat sie Familien, deren Angehörige in polizeilicher Haft ihr Leben verloren.

Schoa Wie kam es zu diesem Lebensweg? Wistrich erzählt von der Mutter ihres Vaters, die die Schoa überlebt hatte. «Sie erzählte mir oft von dem, was ihr damals widerfahren war.» Später drehte Wistrich sogar einen Film über deren Leben. Die Erzählungen ihrer Großmutter und die politischen Karrieren ihrer Eltern – beide waren auch Stadträte der britischen Arbeiterpartei – hatten schon in dem kleinen Mädchen ein starkes Verlangen nach Gerechtigkeit geweckt.

Bereits als Jugendliche fühlte Wistrich eine gesellschaftliche Enge. «Wenn man in meiner Schulzeit schlecht über Mädchen redete, bezeichnete man sie als Hure oder Lesbe.» Erst als sie anfing, in Oxford zu studieren, wurde ihre Welt weiter. Wistrich liebäugelte mit anarchistischen und linken Bewegungen. «Am meisten zog mich jedoch die Antirassismus-Bewegung an, in der es darum ging, sich mit Neonazis auseinanderzusetzen», erinnert sie sich.

Schließlich stieß sie auf den radikalen Feminismus und auf lesbische politische Bewegungen. Dabei begegneten ihr antisemitische Einstellungen – «ähnlich wie solche, die heute die Labourpartei plagen», bemerkt sie. «Dies führte dazu, dass wir Jüdinnen in der Frauenbewegung begannen, uns gegenseitig zu unterstützen.»

Pessach In jenen Jahren erlebte Wistrich ihr erstes Pessachfest. «Es war eine Gruppe jüdischer Lesben, die die Haggada umgeschrieben hatten. Ich glaube mich zu erinnern, dass die Rolle Mirjams betont wurde.»

Was Pessach heute 
für sie bedeutet, 
hat viel mit patriarchalen 
Strukturen zu tun.

Und was bedeutet Pessach heute für sie? Harriet Wistrich muss nicht lange überlegen: «Eigentlich sollten Menschen machen können, was sie wollen, ohne wirtschaftliche oder soziale Grenzen und ohne unter der Kontrolle anderer zu stehen.»

Kontrolle Wistrich spricht über die Strukturen der patriarchalischen Gesellschaft und die Rolle von Geld, Erziehung und Hautfarbe. Viele der Frauen, die sie betreute oder für die sie sich einsetzte, hatten in entscheidenden Momenten keine Kontrolle über ihr Leben.

Was sagt die Geschichte der Befreiung der Israeliten durch Moses über die Befreiung von Frauen aus? Wistrich erwähnt die #MeToo-Kampagne. So wie in der Wüste gebe es für jeden Schritt vorwärts eine Gegenreaktion, mit Angriffen und Zweifeln.

Dann sagt sie, wie wenige der Männer, die Frauen vergewaltigt haben, in Großbritannien tatsächlich verurteilt werden: ganze 1,5 Prozent. Frauen würden zwar heute eher zu Wort kommen, sagt Wistrich, ja, sie seien befreiter, vor allem in den westlichen Gesellschaften. Und doch würden sie oft zur Seite geschoben. Moderne Entwicklungen wie Pornos im Internet würden Frauen unter vollkommen neue Zwänge stellen.

«Waren die Juden nach den 40 Jahren in der Wüste befreit?», wirft sie eine Frage in den Raum. «Nein», sagt sie. Es habe Pogrome gegeben, später den Holocaust, und seit Jahren nehme der Antisemitismus wieder zu. «Ich weiß nicht, ob wir je ganz befreit sein werden», resümiert sie, die jüdische Anwältin, deren Lebenssinn seit Jahren der Freiheit und der Befreiung von Frauen gilt.

München/Gent

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