Corona-Krise

Zahl an Neuinfektionen in charedischen Gemeinden explodiert

Ein charedischer Mann vor der Notaufnahme des Schaarei Zedek-Krankenhauses in Jerusalem. Foto: Flash90

Zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie ist die Sterberate in Israel höher als die in den USA. Mit 14,9 Prozent positiven Tests liegt auch die Covid-19-Infektionsrate in dem kleinen Nahoststaat derzeit über denen der USA, Großbritanniens und anderer Länder, gibt die israelische Armee an.

BEVÖLKERUNGSGRUPPEN Das Gesundheitsministerium bestätigte, dass derzeit nahezu einer von sechs Israelis infiziert sei. Trotz einer verringerten Zahl an Tests sei die Positivrate unverändert. Bei einer Kabinettssitzung in der vergangenen Woche wurde diese Rate in die verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterteilt: Demzufolge liegt die generelle Bevölkerung bei 9,7 Prozent, der israelisch-arabische Sektor bei 13,6 Prozent und die charedische Minderheit bei 26,3 Prozent Positivrate. In der ultraorthodoxen Gemeinde Beitar Illit stieg sie sogar auf 32,5 Prozent.

Die Zahl der ernsthaft Erkrankten in den Krankenhäusern ist auf 810 angestiegen. 800 wurde lange als Grenze der Belastbarkeit des Gesundheitssystems angegeben, jetzt allerdings sprechen Experten meist von 1500. Momentan werden 205 Patienten künstlich beatmet, 73 Prozent von ihnen sind Männer. Insgesamt sind 1547 Menschen in Israel an den Folgen der Atemwegserkrankung durch das Coronavirus gestorben.

Derzeit befinden sich nahezu 3800 Angestellte im Gesundheitswesen in Quarantäne.

Das Ministerium gab an, dass es bis Mitte Oktober mindestens 1500 zusätzliche Betten in den Krankenhäusern für die Behandlung von Corona-Patienten einrichten wolle. Krankenhausleiter warnen jedoch, dass dies nicht das einzige Problem sei. Es herrsche ein extremer Mangel an Personal. Derzeit befinden sich nahezu 3800 Angestellte im Gesundheitswesen in Quarantäne. Außerdem würden andere Bereiche in Hospitälern unter der Erweiterung der Corona-Abteilungen leiden und die dortigen Patienten oft nicht mehr die nötigen Behandlungen erhalten.

MASKEN Am Montagabend war der höchste Feiertag im Judentum, Jom Kippur, zu Ende gegangen. Und Berichte über Regelumgehungen von Teilen der Bevölkerung gingen durch die Medien. Zuvor hatte die Regierung zwar generell das Beten innerhalb von Synagogen verboten, diesen einen Tag jedoch ausgenommen. Offenbar strömten Gläubige im ganzen Land in die Gotteshäuser, oft ohne Masken und ohne ausreichend Abstand voneinander zu halten.

Mehrere Reporter waren an Jom Kippur in mehrere Synagogen der verschiedenen charedischen Strömungen gegangen. Anshel Pfeffer von der Tageszeitung »Haaretz« berichtete beispielsweise, dass sich »Tausende versammelten, und keiner trug eine Maske«. Offenbar wurden auch Zehntausende Jeschiwaschüler nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in den religiösen Internaten in ihre Familien zurückgeschickt, ohne vorher einen Corona-Test durchführen zu müssen. Das aber war die Vorgabe der Regierung für die religiöse Führung gewesen, um die Jeschiwas offen zu halten.

»Durch beengte Wohnverhältnisse, gemeinsame Gebete und das teilweise Nichtbeachten von Regeln sind die Zahlen im ultraorthodoxen Sektor riesengroß.«

Generaldirektor im Gesundheitsministerium Chezy Levy

Premierminister Benjamin Netanjahu hatte der Bevölkerung nach Jom Kippur dafür gedankt, sich größtenteils an die Vorgaben gehalten zu haben. Das Regelbrechen erwähnte er nicht. Sicherheitskräfte hatten an Jom Kippur offenbar keine Gottesdienste unterbrochen oder Versammlungen aufgelöst. Am Dienstag jedoch gab es Berichte über vereinzelte Polizeieinsätze in Synagogen.

JESCHIWA Einen Tag darauf erklärte der Generaldirektor im Gesundheitsministerium, Chezy Levy, dass die Zahlen in den charedischen Gemeinden explodieren. Es gebe eine enorme Rate an Neuinfektionen in den Jeschiwas. »In einer Jeschiwa hatten wir 500 Patienten. Durch die beengten Wohnverhältnisse, die gemeinsamen Gebete und das teilweise Nichtbeachten von Regeln sind die Zahlen im ultraorthodoxen Sektor riesengroß.«

Mehr als ein Dutzend Bildungseinrichtungen seien demzufolge zu Wohneinrichtungen für Covid-19-Patienten umfunktioniert worden, nachdem die Zahlen in die Höhe geschnellt waren. »Wir haben 15 Prozent positive Tests. Das ist Wahnsinn.« Levy führte aus, dass das allgemeine Bildungssystem aus diesem Grund auf keinen Fall in der nächsten Zeit geöffnet werden würde. »Und es ist nicht klar, ob wir es überhaupt wieder aufmachen.« Derzeit sind in Israel sämtliche Schulen und Kindergärten geschlossen.

Die ultraorthodoxen Parteien setzen Netanjahu regelmäßig unter Druck und drohen mit Regierungsaustritt, wenn er ihren Forderungen nicht nachgibt. So hatten sie die Öffnung an Jom Kippur verlangt – und ihren Willen bekommen. Der Corona-Berater der Regierung, Ronni Gamzu, hatte daraufhin gesagt, ihm sei »übel geworden«.

Israel riskierte an Jom Kippur, die größten Massenveranstaltungen der Welt zu haben.

Hagai Levine, Professor für Epidemiologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem und Mitglied der Expertengruppe um Gamzu, ist ebenfalls entsetzt über die Politik. Seiner Meinung nach gehe es bei der Bekämpfung des Coronavirus vor allem darum, Massenveranstaltungen zu unterbinden – und zwar rigoros. Das jedoch geschehe nicht. Bereits vor Jom Kippur hatte er gewarnt, dass Israel an Jom Kippur riskiert, die »größten Massenveranstaltungen in der Welt« zu haben. »Und dass das wahnsinnig gefährlich ist, ist wohl jedem klar.«

DISKRIMINIERUNG Der sogenannte »Ampel-Plan« des Expertenteams war zwar vor einigen Wochen von der Regierung zunächst angenommen worden, dann jedoch auf Druck der charedischen Parteien ad acta gelegt worden, die sich über »Diskriminierung« beklagt hatten. Der Plan hatte vorgeschlagen, alle Orte in Israel entsprechend der Neuinfektionen in Farben einzuteilen und die Maßnahmen anzupassen.

Stattdessen wurde ein zweiter hermetischer nationaler Lockdown verhängt. Und der werde nicht die ursprünglich angekündigten drei Wochen andauern, wie Netanjahu in einer Ansprache per Facebook verkündigte, sondern »mindestens einen Monat und möglicherweise viel länger«. sbr

Jerusalem

Bischof Azar bedauert Irritation durch »Völkermord«-Äußerung

Weil er in einem Gottesdienst in Jerusalem von »Völkermord« an den Palästinensern sprach, hat der palästinensische Bischof Azar für Empörung gesorgt. Nun bedauert er, dass seine Worte Irritation ausgelöst haben

von Christine Süß-Demuth  07.11.2025

Diplomatie

Kasachstan will sich den Abraham-Abkommen anschließen

US-Präsident Donald Trump kündigte den Schritt wenige Tage vor dem Besuch des saudischen Kronprinzen im Weißen Haus. Auch Saudi-Arabien solle seine Beziehungen zu Israel normalisieren, so die Hoffnung des US-Präsidenten

 07.11.2025

Israel

Spion auf vier Rädern

Israels Armee mustert ihre Dienstfahrzeuge »Made in China« aus. Der Grund: Sie könnten ein Risiko für die nationale Sicherheit sein

von Ralf Balke  07.11.2025

Ko Pha Ngan

Thailand: Israelisches Paar hat in der Öffentlichkeit Sex - und wird verhaftet

Die Hintergründe

von Sabine Brandes  06.11.2025

Kommentar

Wo Israel antritt, rollt der Ball ins moralische Abseits

Israelische Spieler und Fußballfans werden schon lange dafür diskriminiert, dass sie von anderen gehasst werden.

von Louis Lewitan  06.11.2025

Kommentar

Warum Zürichs Entscheid gegen die Aufnahme von Kindern aus Gaza richtig ist

Der Beschluss ist nicht Ausdruck mangelnder Menschlichkeit, sondern das Ergebnis einer wohl überlegten Abwägung zwischen Sicherheit, Wirksamkeit und Verantwortung

von Nicole Dreyfus  06.11.2025

Geiselhaft

»Sie benutzten mich wie einen Boxsack«

Die befreite Wissenschaftlerin Elisabeth Tsurkov berichtet über »systematische Folter und sexuelle Gewalt« durch die Entführer im Irak

von Sabine Brandes  06.11.2025

Gaza

Ex-Geisel Rom Braslavski: »Ich wurde sexuell missbraucht«

Es ist das erste Mal, dass ein aus der Gewalt der Terroristen freigekommener Mann über sexuelle Gewalt berichtet

von Sabine Brandes  06.11.2025

Ehrung

»Wir Nichtjuden sind in der Pflicht«

Am Mittwochabend wurde Karoline Preisler mit dem Paul-Spiegel-Preis des Zentralrats der Juden in Deutschland ausgezeichnet. Wir dokumentieren ihre Dankesrede

von Karoline Preisler  08.11.2025 Aktualisiert