Über Israel hängen dunkle Wolken. Es droht einer der schwersten juristischen und politischen Skandale seit Jahren. Im Fokus stehen die angebliche extreme Misshandlung von palästinensischen Gefangenen, Leaks aus Militärkreisen, ein vereitelter oder eventuell vorgetäuschter Selbstmordversuch – und das alles vor dem Hintergrund von Fragen zur Rechenschaftspflicht, Geheimhaltung und Ethik in der israelischen Armee (IDF).
Das Gefängnis Sde Teiman war zur Unterbringung von Palästinensern, hauptsächlich aus Gaza, eingerichtet worden, die nach den Massakern der Hamas in südlichen Gemeinden am 7. Oktober 2023 verhaftet worden waren. Bei dem verheerenden Angriff hatten Terroristen mehr als 1200 Menschen ermordet und 251 als Geiseln nach Gaza verschleppt.
Menschenrechtsgruppen und Medien haben Sde Teiman seit dem Sommer 2024 als Zentrum systematischer Misshandlungen bezeichnet. Es liegen Berichte über vermeintliche Folter, sexuelle Übergriffe und Todesfälle in Haft vor. Laut Anfang des Jahres erhobenen Anklagen werden fünf Reservisten der Armee-Einheit 100, die Terrorverdächtige in der Anlage bewachen soll, beschuldigt, am 5. Juli 2024 einen palästinensischen Gefangenen brutal misshandelt zu haben. Die Staatsanwaltschaft wirft den Männern vor, ihn gefesselt und geschlagen zu haben, was zu Rippenbrüchen und einer Lungenverletzung geführt habe. Zudem hätten die Soldaten ihn mit einem scharfen Gegenstand traktiert, sodass eine Rektumwand gerissen sei.
Der Vorfall kam ans Licht, nachdem Kanal 12 im August 2024 ein Überwachungsvideo ausgestrahlt hatte. Die Bilder sorgten in Israel und weltweit für Empörung und führten zur Festnahme der fünf Reservisten. Sie löste unter rechtsgerichteten Politikern und Aktivisten heftigen Protest aus. Ein Mob drang schließlich in Sde Teiman ein, offenbar um die Verhaftungen zu verhindern. Unter den Randalierern befanden sich Kulturminister Amichay Eliyahu von der rechtsextremen Partei Otzma Yehudit sowie die Knesset-Abgeordneten Tzvi Succot von der rechtsextremen Partei Religiöser Zionismus und Nissim Vaturi vom Likud.
Zu dieser Zeit war Yifat Tomer-Yerushalmi Generalstaatsanwältin der Armee und damit die höchste juristische Autorität des Militärs, zuständig für die Untersuchung von Kriegsverbrechen und Fehlverhalten.
Ende Oktober 2025 dann die schockierende Wende in dem Fall, als Tomer-Yerushalmi zugab, das Video im August 2024 geleakt zu haben. In ihrem Rücktrittsschreiben erklärte sie, die Entscheidung getroffen zu haben, um »falscher Propaganda entgegenzuwirken und zu zeigen, dass die Militärjustiz auch schwerste Verstöße untersucht«. Sie betonte, die Veröffentlichung sei in gutem Glauben und nicht aus politischen Gründen erfolgt.
Die Behörden stuften das Video jedoch als streng vertraulich ein, und Tomer-Yerushalmis Vorgehen löste einen politischen Sturm aus. Das Büro von Premierminister Benjamin Netanjahu bezeichnete den Leak als »beispiellosen Verstoß gegen die nationale Sicherheit«.
Daraufhin kündigte die Juristin am Sonntag ihren Rücktritt an. Nur einen Tag darauf verschwand sie und hinterließ ihr Auto und einen Brief. Nach einer groß angelegten Suchaktion mit Booten und Hubschraubern wurde sie zwei Stunden später lebend an einem Strand in der Nähe von Tel Aviv gefunden. Am Tag danach nahm die Polizei sie fest. Unter anderem werden ihr die Weitergabe geheimer Informationen, Behinderung der Justiz, Vertrauensbruch und Amtsmissbrauch vorgeworfen.
Die Affäre zieht weite Kreise, hat zum Konflikt zwischen Justizminister Yariv Levin (Likud) und Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara geführt, der sich zu einer Verfassungskrise ausweiten könnte. Levin enthob Baharav-Miara ihrer Aufgabe, das Geschehen zu untersuchen, und setzte einen Richter an ihrer Stelle ein.
missstände Auch legt der Fall die tiefe Spaltung innerhalb der israelischen Öffentlichkeit offen: Unterstützer von Tomer-Yerushalmi, darunter Rechtswissenschaftler, Menschenrechtsaktivisten und einige ehemalige Offiziere, loben sie als »Whistleblowerin«, die Missstände aufgedeckt und damit die Rechtsstaatlichkeit verteidigt habe. Ihre Verhaftung zeige, dass die Regierung eher daran interessiert sei, Skandale zu vertuschen, als Folter zu bekämpfen. »Das eigentliche Verbrechen ist nicht die Weitergabe der Informationen«, sagte ein Menschenrechtsanwalt, »sondern das, was in dieser Zelle geschehen ist«.
Im Gegensatz dazu verurteilen viele Mitglieder der Regierungskoalition und des Militärs Tomer-Yerushalmis Vorgehen aufs Schärfste. Rechtsextreme Minister werfen ihr vor, »Israels Feinden eine Waffe in die Hand gegeben zu haben«.
Währenddessen erklärten vier der fünf angeklagten Soldaten: »Wir haben es satt zu schweigen. Am 7. Oktober sind wir ohne zu zögern aufgebrochen. Seit diesem Tag kämpfen Dutzende von Soldatinnen und Soldaten für Gerechtigkeit, nicht auf dem Schlachtfeld, sondern vor Gericht. Statt einer Umarmung wurden wir mit Anschuldigungen überhäuft. Ihr habt uns nicht die Möglichkeit gegeben, uns zu äußern und zu erklären, sondern einen Schauprozess vor laufenden Kameras abgehalten.«
»Eine gründliche Untersuchung ist unerlässlich zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit.« Eran Shamir-Borer
Eran Shamir-Borer, Direktor des Zentrums für Nationale Sicherheit und Demokratie des Israel Democracy Institute, ist davon überzeugt, dass die Veröffentlichung des Videos und vor allem die Vorwürfe der Vertuschung sowie der Irreführung des Obersten Gerichtshofs und der Justizbehörden die israelischen Streitkräfte und die Justiz gleichermaßen verunsichert. »Eine gründliche Untersuchung ist unerlässlich, um die Rechtsstaatlichkeit zu wahren und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Militärjustiz wiederherzustellen.«
Gleichzeitig hebt er hervor, »dass dieser Fall nicht als Vorwand dienen darf, Fälle von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht und Militärbefehle nicht zu untersuchen und zu verfolgen, insbesondere im Zusammenhang mit der Behandlung palästinensischer Gefangener in Militärhaft«. Dies gelte auch für das laufende Strafverfahren wegen des mutmaßlichen Missbrauchs in Sde Teiman.
Dass Verteidigungsminister Israel Katz das Strafverfahren eine »Ritualmordlegende« nennt und dessen Einstellung fordert, bezeichnet Shamir-Borer als »besorgniserregend«. »Denn die Wahrung der professionellen Unabhängigkeit unserer Militärjustiz ist nicht nur für die Rechtsstaatlichkeit von entscheidender Bedeutung, sondern auch für Israels internationale rechtliche und diplomatische Stabilität und damit für unsere Fähigkeit, IDF-Soldaten weltweit vor rechtlichen Risiken zu schützen.«