Berlin

Zeugen der Zeit

Dem Schoa-Überlebenden Franz Michalski ist es wichtig, von seinen Erlebnissen zu berichten

von Christine Schmitt  17.04.2023 20:07 Uhr

Seit vielen Jahrzehnten ein Paar, das durch gute und schlechte Zeiten gemeinsam geht: Franz (89) und Petra Michalski (85) Foto: Stephan Pramme

Dem Schoa-Überlebenden Franz Michalski ist es wichtig, von seinen Erlebnissen zu berichten

von Christine Schmitt  17.04.2023 20:07 Uhr

Eigentlich wollte er Schauspieler werden. Doch er spürte ziemlich bald, dass er dabei sein Inneres nach außen hätte wenden müssen. Dazu war Franz Michalski als junger Mann nicht in der Lage: Zu viel Unerträgliches hatte er erleben müssen.

Während der Schoa war der damals Zehnjährige mit seiner Mutter und seinem kleineren Bruder auf der Flucht, musste ständig Angst und Hunger erleiden. Er bewahrte seine Mutter in letzter Sekunde davor, sich vor Verzweiflung zusammen mit seinem kleineren Bruder in den Selbstmord zu stürzen. Franz überlebte später einen Suizidversuch. Deshalb wollte er sein Seelenleben nicht preisgeben und entschied sich für eine kaufmännische Ausbildung.

mission Franz Michalski und seine Frau Petra haben eine Mission: Sie möchten als Zeitzeugen von dieser Zeit berichten. Sie werden nicht müde, bei fast jeder Gedenkveranstaltung in Berlin dabei zu sein. Jüngst waren sie am »Gleis 17«, als Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kam. Zielgerichtet sei er auf sie zugekommen und wollte ihre Lebensgeschichte hören, berichtet das Ehepaar. »Er war auch wirklich interessiert.« Den Michalskis war es etwas unangenehm, weil sie eine andere politische Richtung vertreten, sagen sie schmunzelnd.

An diesem Freitagvormittag sitzen Petra und Franz Michalski in ihren Sesseln im Wohnzimmer. »Diese Möbel begleiten uns schon unsere ganze Ehe«, sagt Petra Michalski und kann sich immer noch an der guten Qualität erfreuen. Im Regal stehen ordentlich aneinandergereiht ihre Bücher, auf dem Schrank hingegen stapeln sich Magazine, Zeitschriften und Zeitungen.

»Wo sollen wir das alles hinräumen? Es sind doch wichtige Unterlagen!«, sagt die 85-Jährige. In diesem Moment steht Franz Michalski auf und kramt einen dicken Stapel Briefe hervor, die von Schülern stammen, die sie als Zeitzeugen in den Schulen kennengelernt haben.

Ein Gemälde zeigt Lilli mit ihrem Baby Franz im Arm.

An den Wänden hängen Bilder von Petras Großvater, der Maler war. Auch in ihrer Familie gab es jüdische Angehörige, die vertrieben wurden. Ein Gemälde zeigt die junge Lilli mit ihrem Sohn Franz, den sie als Säugling im Arm hält. Und nun berichtet Petra, die die Sprecherin ihres Mannes geworden ist, seitdem er nach einem Schlaganfall nicht mehr viel reden kann, aus seinem Leben: Sein Vater war katholisch, seine jüdische Mutter trat zum Katholizismus über.

Als Franz neun Jahre alt war, musste die Familie aus Breslau fliehen und kam nach Berlin, wo sein Vater schon für das Kosmetikunternehmen Schwarzkopf arbeitete. Er hatte ein möbliertes Zimmer in Charlottenburg. Um ihn nicht zu belasten, mietete sich die Mutter mit ihren Söhnen in kleinen Hotels und Pensionen ein.

pistole Schließlich konnten sie wieder zurück nach Breslau. Ein Polizist schützte die Familie und sorgte dafür, dass ihr Name im Karteikasten immer wieder nach hinten gesteckt wurde, um ihre Deportation zu verhindern. Dann kam Franzʼ zehnter Geburtstag. Der Polizist informierte sie, dass die Gestapo um 15.30 Uhr vor der Tür stehen würde. Lilli deckte einen Geburtstagskaffeetisch. Und während die Gestapo an der Haustür klingelte, schenkte sie schnell Kaffee und Kakao ein – und verschwand mit den Söhnen durch den Hinterausgang zum Bahnhof. So hatte die Familie einen kleinen Vorsprung. Dort wartete Gerda Mez auf die drei, die sie zum Bahnhof brachte.

Als der Vater Monate später an einem verabredeten Tag nicht kam, dachte Lilli, dass ihm etwas zugestoßen sei, und war so verzweifelt, dass sie sich das Leben nehmen wollte. Sie hatte sich Vorwürfe gemacht, dass alles ihre Schuld sei, sie die anderen in Gefahr bringen würde, sagt Petra Michalski, während ihr Mann nickt. Sie nahm die Pistole, die ihr Gatte seinem Sohn gegeben und dabei gesagt hatte, dass er alle erschießen solle, wenn die Gestapo kommt.

Nun konnte er sie ihr gerade noch abnehmen und versuchte, sie zu beruhigen. Aber schließlich ging sie zur Kaimauer, mit Peter im Arm, und wollte sich herunterstürzen. Als der Ältere es schaffte, seinen kleinen Bruder aus ihrem Arm zu befreien, gab sie auf. Die Odyssee durch Tschechien, Österreich und Sachsen bis 1945 nach Berlin konnte die Familie mit Glück und vielen Helfern überleben.

Lehrer In Berlin kam Franz nach Kriegsende auf das Canisius-Kolleg. Die Lehrer waren Jesuiten und fingen an, ihn »auf eine ganz gemeine Art auszugrenzen«, so Petra Michalski. Wenn in der Literatur oder in den Gesprächen etwas Jüdisches vorkam, guckten sie ihn an oder zwinkerten und lachten dabei hämisch, klopften ihm auf die Schulter und sagten: »Na, Michalski, das ist doch genau das Richtige für dich.« Er hielt es nicht aus. Da ihm sein Vater nicht glaubte, fühlte er sich im Stich gelassen. »Und das war unerträglich.«

An einem Tag wollte er aus dem Fenster springen, traute sich aber doch nicht und schluckte lieber alle Medikamente, die sich in der Wohnung befanden. Als seine Eltern nach Hause kamen, war er mehr tot als lebendig, kam in eine Klinik und konnte gerade so gerettet werden. »Für jüdische Kinder war die Nachkriegszeit schlimm.« Er kam in ein Internat, wo er einen Freund fand, der aus Hamburg kam – und das war Petras Bruder.

Seine Frau erinnert sich immer gern an ihre erste Begegnung: »Es war die Zeit, als wir viel tanzten und Benny Goodman hörten«, sagt sie. Franz hätte damals auf die Schallplatten geschielt und gesagt, wie sehr er die Jazzmusik mag. Petra tanzte für ihr Leben gern und sehr gut, Franz forderte sie auf. »Und was geschah? Er trat mir auf den Fuß.« Das war der Anfang ihrer Verbindung, die bis heute hält. »Wir werden immer nach unserem Rezept gefragt, ich sage immer: Verständnisvoll und kompromissbereit muss man sein.«

Sie sind viel unterwegs – in Gedenkstätten und am Nikolassee.

Franz wurde Kaufmann. 1969 zog die Familie nach Mannheim, wo er als Geschäftsführer eines Unternehmens der Boehringer-Mannheim-Gruppe arbeitete. Als er pensioniert wurde, entschied sich das Paar, nach Berlin zu ziehen und endlich das zu tun, worauf es Lust hatte. »Und das war Reisen.« Nach Argentinien, China und auf die Kanarischen Inseln. Eigentlich hatten sie immer einen Jahresplan, wann sie wo sein würden. Und auch in Berlin sind sie viel unterwegs. Am Nikolassee gehen sie gern spazieren.

Einmal besuchten sie eine Veranstaltung einer Gedenkstätte, bei der Evy Goldstein sprach, die als Fünfjährige in Berlin im Untergrund gelebt hatte. Nun berichtete sie, dass es den jüdischen Kindern nach dem Krieg schlecht ging. »Da sagt Franz das erste Mal in der Öffentlichkeit: ›Ach, wem sagen Sie das?‹ Weiter nichts. Eine Historikerin hat das gehört und ihn darauf angesprochen. Und er hat gesagt: ›Ja, dazu kann ich mehr erzählen, ich habe auch gerade meine Biografie geschrieben‹«, berichtet Petra Michalski.

schulen Von da an wurden sie als Zeitzeugen von Schulen eingeladen. »Wir wollen damit auch an die stillen Helden erinnern, die der Familie immer wieder geholfen haben. Und damit die Kinder ermutigen, zu helfen, wenn sie Menschen in Not sehen.« Ein Brief rührte sie besonders: Eine Schülerin schrieb, dass sie sich bei ihr immer verstecken könnten.

Bis November sind die Termine an Schulen in ihrem Kalender eingetragen. Auch Jom Haschoa. Von neun bis 21 Uhr werden vor dem Gemeindehaus die Namen der 55.696 ermordeten Berliner Juden aus dem Gedenkbuch des Landes Berlin gelesen. »Natürlich sind wir dabei«, sagen die Michalskis.

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