Porträt der Woche

»Wir stemmen das selbst«

»Meine ehrenamtlichen Tätigkeiten verstehe ich als Mizwot«: Diana Sandler (51) lebt in Bernau. Foto: Uwe Steinert

Porträt der Woche

»Wir stemmen das selbst«

Diana Sandler ist Betriebswirtin, hat im Barnim ein jüdisches Hilfswerk aufgebaut und versteht ihre Engagement als Mizwa

von Gerhard Haase-Hindenberg  01.08.2020 22:28 Uhr

Ich wurde in Dnipropetrowsk in der Ukraine geboren und bin dort aufgewachsen. Meine Familie hatte ein schwieriges Leben, weil wir Juden waren. Mein Vater und große Teile seiner Familie wurden während des Krieges nach Taschkent evakuiert. Auf dem Transport nach Usbekistan, das sind mehr als 1500 Kilometer, sind viele gestorben, auch aus meiner Familie.

Rote Armee Nur wenige von ihnen, darunter mein Vater, sind nach dem Krieg nach Dnipropetrowsk zurückgekehrt. Sein Vater, also mein Großvater, diente während des ganzen Krieges als Soldat der Roten Armee. 1945, vor 75 Jahren, kämpfte er in der Schlacht um Berlin mit.

Die Familie meiner Mutter hat den Einmarsch der Nazitruppen in Dnipropetrowsk miterlebt. Die Verwandten haben alle Papiere vernichtet und die Stadt verlassen. Nur meine Urgroßmutter blieb zurück und wurde von Nachbarn bei den Deutschen als Jüdin denunziert und sofort erschossen.

Meine Großmutter und meine Mutter zogen über die ukrainischen Dörfer, bis auch sie während einer Razzia geschnappt wurden. Sie haben bestritten, jüdisch zu sein. Schließlich kamen sie als Zwangsarbeiter nach Bayern und kehrten erst nach dem Krieg in die Ukraine zurück. Dort wurde ich im Jahr 1969 geboren.

SCHULZEIT Als Kind in der Ukraine wurde ich über meinen Namen Sandler immer sofort als jüdisch identifiziert und von Mitschülern beleidigt. Die Lehrer haben nichts dagegen unternommen. Diese Ausgrenzung hat mich sehr verletzt, schließlich möchte man als Kind doch dazugehören.

Ich aber war die einzige Jüdin in der Klasse, stand also ganz alleine da. Zu Hause habe ich dauernd gefragt, was Juden eigentlich sind, was in der Sowjetunion aber für die Eltern sehr schwierig zu erklären war.

Nach dem Schulabschluss habe ich in verschiedenen Berufen gearbeitet, wobei mir die Ausbildung zur Goldschmiedin sehr viel Spaß gemacht hat. Kurz bevor wir 1995 nach Deutschland ausgereist sind, habe ich in Dnipropetrowsk einen jüdischen Kindergarten gegründet, den ich bis zu meiner Ausreise geleitet habe.

Als Kind war ich die einzige Jüdin in der Klasse.

Mein Bruder, der 17 Jahre älter ist als ich, war mit unserer Großmutter schon 1990 nach Deutschland gekommen, weshalb meine Mutter auch dorthin wollte. Als wir hierherkamen, war ich bereits verheiratet, hatte ein kleines Kind und war wieder schwanger.

IRRTUM Wir waren sicher, dass in Deutschland nach der Schoa der Antisemitismus endgültig ausgerottet sein würde. Meine Oma und meine Mutter konnten aus der Zeit der Zwangsarbeit auch noch ganz gut Deutsch. Unsere erste Station war Ahrensfelde bei Berlin, wo mein Bruder mit der Großmutter lebte.

Schließlich kamen wir im Kreis Barnim zunächst in ein Wohnheim. Schon bald stellten wir fest, dass das mit dem nicht mehr vorhandenen Antisemitismus in Deutschland ein Irrtum war. Als wir eine Wohnung in Bernau bezogen, sprach sich schnell unter den Nachbarn herum, dass Juden ins Haus eingezogen sind.

BELEIDIGUNGEN Eines Tages beobachtete ich von meinem Fenster aus, wie mein kleiner Sohn attackiert wurde. Sie hatten eine Flasche zerschlagen und bedrohten ihn mit dem scharfkantigen Flaschenhals, während sie ihn als »Judenschwein« beschimpften. Nach und nach zogen einige Nachbarn aus unserem fünfstöckigen Haus aus, weil sie nicht mit Juden unter einem Dach leben wollten.

Als ich nach Anfeindungen von Nachbarn keine Hilfe vom Bürgermeister erhielt, beschloss ich, selbst gegen Antisemitismus aktiv zu werden.

Leute aus den Nachbarhäusern beleidigten mich auf offener Straße. Sie sagten mir unverblümt ins Gesicht, dass wir nicht erwünscht seien, und forderten uns auf, zu verschwinden. Im Jahr 2003 habe ich deshalb den damaligen Bürgermeister von Bernau aufgesucht. Er bestätigte mir, dass es »solche Probleme häufig« gebe, bedauerte jedoch, mir nicht helfen zu können.

Ich zog aus dem Haus aus, beschloss aber gleichzeitig, selbst gegen Antisemitismus aktiv zu werden. In Erfurt hatte ich Soziale Betriebswirtschaft studiert und danach an der Fachhochschule in Potsdam ein Hochschulzertifikat für »Antidiskriminierung, Partizipation und Inklusion« erworben. Das war die theoretische Grundlage, der ganz konkrete Aktionen folgen sollten.

NETZWERK Inzwischen vertrete ich die jüdischen Gemeinden in Brandenburg als Antisemitismusbeauftragte und bin ehrenamtlich im bundesweit tätigen Zentrum gegen Antisemitismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit aktiv. So bin ich regelmäßig zu Beratungen beim Integrationsbeauftragten der Bundesregierung und wurde auch von der Fraktion der CDU/CSU in den Bundestag eingeladen, wo ich für unseren Kampf gegen Antisemitismus geworben habe.

Im Jahr 2016 war ich Mitbegründerin von »Jumu – Juden und Muslime«, wo ich mich für den interreligiösen Dialog einsetze. Im letzten Jahr ist unsere Organisation von Bundespräsident Steinmeier mit dem Förderpreis der Deutschen Nationalstiftung ausgezeichnet worden.

Im letzten Jahr ist unsere Organisation von Bundespräsident Steinmeier mit dem Förderpreis der Deutschen Nationalstiftung ausgezeichnet worden.

Im Kreis Barnim, wozu auch Bernau gehört, gab es, als ich dorthin zog, keine jüdische Gemeinde. Also gründete ich eine Initiativgruppe und wandte mich an die jüdischen Gemeinden von Berlin und Potsdam. Aber wir wurden immer wieder abgelehnt, wahrscheinlich, weil die meisten Juden aus der Sowjetunion sich mit den jüdischen Regeln nicht auskannten.

Das war in meiner Familie ja auch nicht anders. Das einzige Fest, das wir etwas ausführlicher gefeiert haben, war Pessach. Aber auch da hatten wir keinen ausgiebigen Seder mit Haggada und Afikoman.

Es gab angeblich technische Gründe, weshalb die Unterstützung nicht möglich sein sollte, was ich damals nicht richtig verstanden habe. Da hatte ich nun diese Initiativgruppe, stand aber ohne Unterstützung da. Wir mussten es also weitgehend allein schaffen.

GEMEINDEHAUS 1997 habe ich dann die Jüdische Gemeinde im Kreis Barnim nordöstlich von Berlin gegründet. Wir haben ein Haus gemietet, das unser Gemeindehaus ist und in dem auch die Gottesdienste stattfinden. Inzwischen haben wir ein soziales Netzwerk für Juden im Kreis Barnim entwickelt.

In diesem Zusammenhang hatte ich mich in den 90er-Jahren an verschiedene staatliche Stellen gewandt und um Unterstützung finanzieller wie organisatorischer Art gebeten. Als es überwiegend Ablehnungen gab, habe ich mir gesagt: »Dann müssen wir eben auch das selbst stemmen – mit ehrenamtlicher Tätigkeit und privaten Sponsoren.«

Schon 1999 hatte ich eine Notrufnummer eingerichtet, die mittlerweile rund um die Uhr erreichbar ist.

Inzwischen beraten meine Mitstreiter und ich jüdische Menschen mit psychischen Problemen. Diese Menschen kommen entweder zu uns, oder sie rufen uns an, und wir fahren zu ihnen hin. Das ist inzwischen ein richtiges Notfallsystem, das ich von Anfang an mit aufgebaut habe. Schon 1999 hatte ich eine Notrufnummer eingerichtet, die mittlerweile rund um die Uhr erreichbar ist.

Dolmetscher Wir haben vier Autos, und es sind derzeit zwölf Gemeindemitglieder, die sich im Dienst abwechseln. Darunter ist auch ein Dolmetscher für diejenigen, die noch kaum Deutsch können. Es gibt auch vier Ärzte und eine Russisch sprechende Psychologin aus Moskau, die unser Notfallsystem unterstützen.

Vor nicht langer Zeit wurde zum Beispiel eine ältere Frau ausgeraubt, wobei es zu antisemitischen Beschimpfungen kam. Ich bin zu dieser jüdischen Dame hingefahren, habe einen Krankenwagen gerufen und Anzeige bei der Polizei erstattet.

Eine andere ältere Frau wurde von einem Nachbarn, einem Aussiedler aus Kasachs­tan, als »dreckige Jüdin« beschimpft, und es wurde ihr angedroht, dass er sie umbringen werde. Als wir Anzeige erstatten wollten, sagten uns die Polizisten, sie könnten nichts unternehmen, da ja bisher »noch nichts passiert« sei. Kurz darauf wurde diese Frau von dem Nachbarn zusammengeschlagen. Nun kam der Vorfall vor Gericht, und ich habe die Frau während des Prozesses begleitet.

CORONA Zu Beginn der Corona-Krise haben wir ein weiteres Telefon eingerichtet, speziell für die russischsprachigen Zuwanderer in unserer Gemeinde, aber auch für andere zugewanderte Juden. Seit der Quarantäne kann man uns anrufen, und wir kaufen für sie ein und erledigen andere Dinge. In einzelnen Fällen kochen wir auch für sie, wenn sie das nicht mehr selbst können. Das haben wir schon vor der Corona-Zeit gemacht, aber während der Quarantäne hat die Zahl derer zugenommen, für die wir zu den Schabbatot Challa backen und koscheres Essen zubereiten.

Für ältere Menschen, die noch nicht so gut mit dem Internet umgehen können, haben wir Leute, die es ihnen beibringen. Denn unsere Gottesdienste werden ja per Livestream übertragen, und die Beter sollen in der Lage sein, sie zu verfolgen. Hierfür haben wir viele Smartphones und etwa 40 Laptops verteilt, die von einer Firma in Berlin gesponsert wurden.

All diese ehrenamtlichen Tätigkeiten verstehe ich als Mizwot – und ich konnte viele motivieren, es ähnlich zu sehen.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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