Kulturtage

»Weitermachen ist die einzige Chance«

Teilnehmer der Diskussionsrunde: Philipp Peyman Engel, Armin Nassehi, Marcel Reif, Adriana Altaras, Moderator Gil Bachrach und Ludwig Spaenle (v.l.) Foto: Daniel Schvarcz

Im Rahmen der Jüdischen Kulturtage hatte die Gesellschaft zur Förderung jüdischer Kultur und Tradition e.V. am vergangenen Sonntag zum Talk »Jüdisches Leben in Deutschland – Heute und Morgen« eingeladen. Dass das Thema bewegte, war offensichtlich, denn der Saal im Münchner Literaturhaus war bis auf den letzten Platz besetzt.

Die Vereinsvorsitzende Judith Epstein betonte, die große Resonanz zeige, dass viele Münchner jüdische Kultur aktiv unterstützten und sich mit jüdischem Leben solidarisierten. Unter den Gästen waren auch prominente Persönlichkeiten wie der Moderator Günther Jauch sowie die Schauspielerinnen Sunnyi Melles und Uschi Glas, deren Engagement für die Geiseln Epstein besonders würdigte.

Bayerns Antisemitismusbeauftragter Ludwig Spaenle verwies in seinem Grußwort auf Ergebnisse einer Studie der europäischen Grundrechteagentur FRA zu Erfahrungen mit Judenhass: 96 Prozent der befragten Juden in Europa berichteten von antisemitischen Erfahrungen im vergangenen Jahr, 65 Prozent fühlten sich weniger sicher. »Das sind Zahlen, die uns Sorgen machen müssen«, so Spaenle – zumal antisemitische Haltungen heute zunehmend aus der gesellschaftlichen Mitte heraus formuliert würden.

Deutliche Worte

Auch Stadtrat Michael Dzeba wählte deutliche Worte. Wenn sich jüdische Menschen in Deutschland entfremdet fühlten, dann »sind auch wir selbst wieder fremd«. Judenhass sei ein Seismograf für den Zustand der Gesellschaft. Es sei deshalb spät, so Dzeba, »aber nicht zu spät«.

Moderator Gil Bachrach aus dem Vorstand des veranstaltenden Vereins ließ gleich zu Beginn der Gesprächsrunde keinen Zweifel am Ernst der Lage. Der 7. Oktober 2023 habe eine gesellschaftliche Dynamik ausgelöst, die viele als offene Revolte gegen Juden empfänden. Zugleich stellte er klar: »Die Frage nach dem Morgen ist auch eine Frage nach Möglichkeiten.«

Die Diskussion machte deutlich, wie sehr die jüdische Gemeinschaft unter Druck steht.

Über diese Möglichkeiten sprachen vier Gäste mit sehr unterschiedlichen Bezügen zum Thema. Armin Nassehi, Mitglied des Deutschen Ethikrats und Soziologieprofessor sowie seit Oktober Vizepräsident der Ludwig-Maximilians-Universität, untersucht in seinem im März erscheinenden Buch Anmerkungen zum Antisemitismus die strukturellen Konstanten judenfeindlicher Denkformen.

Auf dem Podium beschrieb er, wie solche Muster sich auch global vervielfältigt hätten – sichtbar unter anderem im Rahmen der documenta fifteen im Jahr 2022. Gesamtgesellschaftlich, aber auch im universitären Umfeld erkenne er selbst eine zunehmende Verschmelzung von Protesthaltung und antisemitischen Zuschreibungen. Hochschulen müssten daher Räume schaffen, in denen Konflikte sachlich und akademisch fundiert ausgetragen werden könnten.

Ambivalenzen aushalten

Die Autorin, Schauspielerin und Regisseurin Adriana Altaras berichtete, dass sie selten persönlich angegriffen werde, auch, weil sie nicht in sozialen Medien aktiv sei. In ihrem Umfeld jedoch begegneten ihr regelmäßig Menschen, die BDS-Argumente verträten. Ihre Antwort: »Wenn wir keine Künstler, Wissenschaftler, Musiker mehr aus Israel einladen, wissen wir irgendwann gar nicht mehr, wie Israel ist.« Ihr sei gerade die offene Kommunikation wichtig, besonders mit jungen Menschen. Ambivalenzen auszuhalten, sei eine Fähigkeit, die nicht verloren gehen dürfe. »Weitermachen«, so Altaras, »ist die einzige Chance.«

Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der »Jüdischen Allgemeinen« und zusammen mit Hamed Abdel-Samad Autor des Bestsellers Was darf Israel?, schilderte die Realität einer zunehmend belastenden Gegenwart. »Der jüdischen Seele geht es schlecht«, hielt er unter Verweis auf anekdotische wie empirische Evidenz fest. Er selbst erhalte regelmäßig Drohungen – per Brief, per Mail, über soziale Medien. Auch über die individuelle Ebene hinaus fragte Engel, wie Sicherheit empfunden werden könne, wenn Islamisten auf Demonstrationen wie am Berliner Alexanderplatz Unterstützern Israels offen Gewalt androhten und straffrei ausgingen.

Auch die Medien nahm er in die Pflicht: In der Nahostberichterstattung würden Ursache und Wirkung oftmals vertauscht, wichtige Fakten ausgeblendet. Als Beispiel nannte Engel Medien wie den »Spiegel«, die »Süddeutsche Zeitung« und insbesondere den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Marcel Reif, dessen Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag 2024 große Aufmerksamkeit erregt hatte, sprach eindringlich über Verantwortung.

Der Sportjournalist und Kommentator Marcel Reif, dessen Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag 2024 große Aufmerksamkeit erregt hatte, sprach eindringlich über Verantwortung. Ohne jüdisches Leben, so Reif, gebe es für Deutschland keine Zukunft – und doch verspiele das Land gerade seine »zweite Chance«.

»Ich arbeite daran, ein anständiger Mensch zu sein«

Anfang der 2000er-Jahre hatte er seinen ersten Vornamen Nathan streichen lassen – ein Schritt, der viel über das gesellschaftliche Klima jener Zeit aussage. Die Antwort auf die Frage nach seiner Identität laute heute schlicht: »Ich arbeite daran, ein anständiger Mensch zu sein.« Die Gegenwart erlebe er zwiespältig, es gebe zwar vieles, das positiv stimmen könne, aber die fehlenden Konsequenzen nach antisemitisch motivierten Straftaten seien nur noch schwer erträglich.

Die Diskussion führte eindrücklich vor Augen, wie sehr die jüdische Gemeinschaft in Deutschland unter Druck steht – und wie viele Menschen dennoch beharrlich weiter daran arbeiten, Perspektiven für ihre Zukunft aufzuzeigen. Am Ende dieses Nachmittags standen daher eine Feststellung und zugleich ein Appell: dass jüdisches Leben in Deutschland als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Verantwortung zu begreifen sei. Und in den Worten von Marcel Reif: »Jeder sollte versuchen, ein anständiger Mensch zu sein.«

Sicherheit

»Keine jüdische Veranstaltung soll je abgesagt werden müssen«

Nach dem Massaker von Sydney wendet sich Zentralratspräsident Josef Schuster in einer persönlichen Botschaft an alle Juden in Deutschland: Lasst euch die Freude an Chanukka nicht nehmen!

von Josef Schuster  17.12.2025

Deutschland

»Das Licht wird nicht erlöschen«

Trotz des Terroranschlags in Sydney lassen es sich viele Juden in Deutschland nicht nehmen, öffentlich Chanukka zu feiern. Ein Stimmungsbild

von Christine Schmitt, Helmut Kuhn, Nicole Dreyfus, Ulrike Gräfin Hoensbroech  17.12.2025

Interview

Holocaust-Überlebender Weintraub wird 100: »Ich habe etwas bewirkt«

Am 1. Januar wird Leon Weintraub 100 Jahre alt. Er ist einer der letzten Überlebenden des Holocaust. Nun warnt er vor Rechtsextremismus und der AfD sowie den Folgen KI-generierter Fotos aus Konzentrationslagern

von Norbert Demuth  16.12.2025

Magdeburg

Neuer Staatsvertrag für jüdische Gemeinden in Sachsen-Anhalt

Das jüdische Leben in Sachsen-Anhalt soll bewahrt und gefördert werden. Dazu haben das Land und die jüdischen Gemeinden den Staatsvertrag von 2006 neu gefasst

 16.12.2025

Bundestag

Ramelow: Anschlag in Sydney war Mord »an uns allen«

Erstmals gab es in diesem Jahr eine Chanukka-Feier im Bundestag. Sie stand unter dem Eindruck des Anschlags auf eine Feier zum gleichen Anlass am Sonntag in Sydney

 16.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025

Berlin

Chanukka-Licht am Brandenburger Tor entzündet

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin das erste Licht am Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet. Der Bundespräsident war dabei

 15.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  15.12.2025

Berlin

Straße nach erster Rabbinerin der Welt benannt

Kreuzberg ehrt Regina Jonas

 12.12.2025