Joachim Jacobs steht in der Charlottenburger Kantstraße und klingelt. Er sagt: »Hoffe, das klappt, wie vereinbart.« Aber nichts passiert. Der 65-Jährige klingelt noch einmal. Es sei verabredet gewesen, dass er gegen 16 Uhr in den Hinterhof gelassen werde. Nach zwei Minuten der Unsicherheit steht ein Mann auf, der vor einem Café nebenan sitzt und fragt, ob er helfen könne. Als er hört, dass sich im zweiten Hinterhof eine ehemalige Synagoge befinden soll, schaut er erstaunt – und öffnet der 20-köpfigen Gruppe das Haus.
Kurz darauf stehen alle im zweiten Hinterhof und schauen auf eine Fassade, die übersät ist mit Einschusslöchern aus dem Zweiten Weltkrieg. Jacobs erzählt, dass ausgerechnet die SS in den letzten Kriegstagen die Thorat-Chesset-Synagoge als Rückzugsort vor den russischen Angreifern nutzte. »Zwischen 1908 und 1939 haben hier bis zu 280 Juden jeden Freitag den Schabbat gefeiert.« Eine typische Hinterhof-Synagoge eben.
»Dass sie nicht zerstört wurde, liegt daran, dass sie auch damals umgeben war von Wohnhäusern.« Man befürchtete ein Überspringen der Flammen. Jacobs ist in diesem Augenblick kaum zu verstehen, weil genau hinter der Synagoge eine S-Bahn in Richtung Savignyplatz donnert – wie auch schon vor 100 Jahren.
Gekommen sind viele jüdische und vor allem nichtjüdische Berliner
Das Zusammenleben von jüdischen und anderen Berlinern mitten in der Großstadt ist so etwas wie das Hauptthema dieser Führung an einem Sonntag Ende September in Charlottenburg. Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Berlin (GCJZ) hat dazu geladen, und gekommen sind viele jüdische und vor allem nichtjüdische Berliner. Die Teilnehmerliste war schnell gefüllt, sagt Beatrice Loeb von der GCJZ. Sie veranstalten jedes Jahr mehr als 100 Termine – aber wenn das Interesse da ist, könne es solche Führungen auch öfter geben.
Rund eine Stunde vor diesem kleinen Türproblem auf der Kantstraße stehen 20 Personen im Innenhof der Pestalozzistraße vor einer anderen Synagoge und warten darauf, dass die Führung beginnt. Gisela Möller ist eine davon. Sie selbst ist keine Jüdin und wird von einer Freundin begleitet, um mehr über diesen Stadtteil zu lernen. »Meine Tochter hat hier in der Straße gewohnt«, berichtet die 77-Jährige, »aber wir haben Orte wie diesen nie wirklich gesehen.«
Joachim Jacobs, Mitglied der Jüdischen Gemeinde, beginnt seinen Vortrag mit einer Entschuldigung. Er sei Landschaftsarchitekt und habe noch nie eine Gruppe geführt. Doch er macht einen ziemlich routinierten Eindruck als Besucherbegleiter. Er sei im Vorstand der Synagoge und könne deshalb aus erster Hand berichten, wie die Freitagsgebete hier abgehalten werden. »Bei uns sitzen Frauen und Männer getrennt«, sagt er, »aber wir stimmen regelmäßig darüber ab, ob wir das ändern wollen.« Die meisten wollen das bisher nicht.
Der Bau ähnelt im Grundriss vielen anderen Synagogen aus jener Zeit
Er erzählt vom Jahr 1912, dem Jahr, in dem die »Titanic« unterging, die Nofretete-Büste entdeckt wurde und die letzten Reichstagswahlen vor dem Ersten Weltkrieg stattfanden. In der Kantstraße hatte gerade das erste chinesische Restaurant in Berlin eröffnet, das »Tientsin« – und im selben Jahr stellte der Architekt Ernst Dorn auch diese Synagoge in der Pestalozzistraße fertig. Der Bau ähnelt im Grundriss vielen anderen Synagogen aus jener Zeit, aber eine Besonderheit ist das falsche Fenster links des Altars. Es sieht genauso aus wie das richtige Fenster, durch das gerade die Nachmittagssonne scheint, nur mit dem Unterschied, dass es nicht so strahlt.
Das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in der Hauptstadt ist Thema der Führung.
Es war die Zeit, als in Berlin 150.000 bis 170.000 Juden lebten. In vielen Stadtteilen gab es ein im Alltag sichtbares Judentum, von Prenzlauer Berg über Mitte bis nach Charlottenburg. Die Pestalozzi-Synagoge wurde 1915 zu einer offiziellen Synagoge der jüdischen Gemeinde. Noch heute gibt es einen Chor, und 2020 wurde eine digitale Orgel eingebaut. »Musik ist in unserer Gemeinde sehr wichtig«, weiß Jacobs zu berichten, »aber wir sind auch sehr stolz, dass die Malereien im Jahr 2014 so wiederhergestellt wurden, wie sie 1912 aussahen.« In der Pogromnacht 1938 zündeten die Nationalsozialisten die Synagoge an, sie brannte völlig aus. Im Krieg diente das Gebäude als Wäscherei und wurde schon zwei Jahre nach Kriegsende als Synagoge wiedereröffnet.
Als die Gruppe das Bethaus verlässt, wird für einen Moment deutlich, dass es noch Geschichten gibt, die Jacobs nicht erzählt, die aber für jeden sichtbar sind, der vor dem Hauseingang Pestalozzistraße 14 steht: Hier liegen 20 Stolpersteine, die an 20 Menschen erinnern, die dort gewohnt haben und im Holocaust ermordet wurden. Eine von ihnen war Anna Schmul, Jahrgang 1942. Ermordet 1944 in Auschwitz.
Zweiter Stopp dieser Sonntagsführung ist der Kant-Garagenpalast
Der zweite Stopp dieser Sonntagsführung ist der Kant-Garagenpalast, ein 1930 errichtetes Gebäude im Stil der Neuen Sachlichkeit, die auch auf der Internationalen Bauausstellung 1932 für Furore sorgte. Entworfen hat das Gebäude unter anderem der jüdische Architekt Hermann Zweigenthal, der später nach New York emigrierte und damals Schüler von Hans Poelzig war.
Jacobs erzählt auf der Kantstraße die überlieferte Anekdote, dass Albert Speer, der spätere Nazi-Architekt, sich in jungen Jahren einst für ein Seminar bei Poelzig bewarb. Doch dieser lehnte Speers Mappe laut Zweigenthal mit den Worten ab: »Merke dir, mein Lieber, aus einem Arsch kommt immer nur Scheiße.«
Die Kant-Garagen, noch heute ein Hingucker, ziehen letzte Blicke auf sich, da ist die Gruppe schon ein paar Meter weiter bei der Nummer 125 angelangt, wo das Problem mit der Klingel gelöst werden muss. Hier stand einst die eingangs erwähnte Thorat-Chesset-Synagoge, die heute kaum zu erkennen ist vor lauter Einschusslöchern. Im Internet ist zu lesen, dass sich hier ein Künstleratelier befinden soll, in der zweiten Etage brennt Neonlicht. Doch auf das Klingeln reagiert niemand.
Der letzte Halt der Führung bringt die Gruppe zur Bleibtreustraße 2 – dem ehemaligen Standort der Mikwe der jüdischen Gemeinde in Charlottenburg. Dort, wo heute ein Kinderspielplatz ist, befand sich jahrzehntelang das rituelle Tauchbad, ein Ort spiritueller Reinigung und Teil des inneren Lebens einer Gemeinde.
Heute erinnert eine Gedenktafel an die Mikwe und die jüdische Geschichte
»State of the Art« sei dieses Tauchbad gewesen für damalige Verhältnisse, betont Jacobs. Von 1927 an wurden das Erd- und Kellergeschoss des Hauses als Mikwe genutzt. Nach der vollständigen Zerstörung des Gebäudes im Krieg wurde auf dem Grundstück 1956 der Spielplatz errichtet. Heute erinnert eine Gedenktafel an die Mikwe und die jüdische Geschichte dieses Ortes.
Der Nachmittag endet in der »Patisserie Avnon«, die für die Gruppe den Laden in der Schlüterstraße extra länger geöffnet hält. Ursula Gerstel sagt, sie sei froh, diese Führung mitgemacht zu haben. Sie habe jahrelang in der Liebermann-Gesellschaft gearbeitet, wusste also schon einiges über jüdisches Leben in Berlin – aber sie habe noch einmal viel dazugelernt.
»Seit dem 7. Oktober 2023 ist es für viele Juden in Berlin nicht einfacher geworden«, sagt sie. So hat auch ein Gast während der Führung erzählt, er habe früher seine Kippa schon draußen auf der Pestalozzistraße getragen. Jetzt setze er sie erst im Innenhof auf.