Eine Frau sitzt vor einem schwarzen Hintergrund, sie blickt nach unten, dann hebt sie langsam beim Sprechen den Blick. Es ist ein Satz, der in seiner Kürze und Intensität das umfasst, was bei vielen bislang vielleicht unformuliert geblieben ist: »Es ist überhaupt das erste Mal, dass ich über meine Erfahrungen spreche – meine Gefühle, meine Gedanken zum 7. Oktober, weil ich tatsächlich kein Vertrauen habe, dass das, was ich sage, verstanden wird.«
Es ist die Regisseurin Sharon Ryba-Kahn, die diesen Gedanken ausspricht. Es ist eines von bislang vier kompletten Videos, das auf dem neuen Portal »Kolot« (hebräisch für Stimmen) zu sehen ist. Auf Kolot halten Jüdinnen und Juden aus Deutschland ihre Erfahrungen nach dem 7. Oktober 2023 fest. Sie sprechen über Traumata, Familiengeschichten, über die ersten Momente an dem Tag, an dem in Israel beim Überfall der Terrororganisation Hamas mehr als 1200 Menschen ermordet wurden. Sie erzählen von Hilflosigkeit, von Schock, von einer neuen Realität.
Das Portal ist von der Beratungsstelle »Ofek« ins Leben gerufen worden und ist eine Kooperation mit dem Jüdischen Museum Berlin, in dessen Sammlung die Videos eingehen werden.
Kuratiert wird Kolot von der Psychologin und Verhaltenswissenschaftlerin Marina Chernivsky. »Der 7. Oktober hat verdrängte Schichten jüdischer Erinnerung aufbrechen lassen und zugleich neue, tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen«, sagte Chernivsky. Das Portal sammle, dokumentiere und verdichte Stimmen aus der jüdischen Gemeinschaft. Die Videointerviews thematisierten aktuelle Formen von antisemitischer Gewalt, brächten aber auch frühere Traumata ins Gedächtnis, die durch die Massaker der Hamas neu aufgebrochen seien.
Die Videointerviews thematisierten aktuelle Formen von antisemitischer Gewalt
Als dokumentarisches und künstlerisches Projekt gehöre das im vergangenen Jahr gestartete Kolot zu den ersten in Deutschland und Europa, die sich der Erinnerungsarbeit an den 7. Oktober aus jüdischer Perspektive widmen, sagt sie. Es mache Erfahrungen sichtbar, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft an den Rand gedrängt werden, und bewahre die Erzählungen jüdischer Protagonistinnen und Protagonisten.
Neben der Journalistin Erica Zingher und der früheren Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), Hanna Veiler, ist im Trailer auch die Fotografin Ruthe Zuntz zu sehen, die darüber spricht, wie sich der 7. Oktober auf ihre Familie und sie ausgewirkt hat. »Ich sehe, was dieses Generationen-Trauma anrichtet, wie es sich in unserer Familie fortsetzt, welches Erbe ich von meinem Vater erhalten habe – die Geschichte unserer Familie«, so Zuntz.
Der Verlust von Leben auf beiden Seiten sei ein schweres Erbe, das den Frieden in weite Ferne rücken lässt. »Das ist traurig«, sagt sie, »es bricht mir das Herz.« Aufgenommen wurden die bislang zu sehenden Videos zwischen Juli 2024 und März 2025. Sie sind, so heißt es in einem Post bei Instagram, ein »Mosaik persönlicher Erzählungen«. Sie knüpfen an die Tradition der Oral History an, die Erfahrungen und Zeugenberichte festhält und weitergibt.
Sharon Ryba-Kahn, Ruthe Zuntz, Laura Cazés und viele andere haben sich vor die Kamera gesetzt und immer wieder auch über sehr persönliche Dinge gesprochen. Bei einer Diskussion anlässlich des ersten Jahrestages des 7. Oktober im Jüdischen Museum Berlin berichtete Zuntz aus einer Unterrichtsstunde in ihrer Kunstklasse, in der die Studenten größtenteils arabischer Herkunft waren. Als sie im Video gefragt wurde, was sie über den 7. Oktober denken würde, lautete ein Teil ihrer Antwort: »Es ist jetzt besser zuzuhören, es ist jetzt besser, Fragen zu stellen und zu lernen, zuzuhören – und sich eine Meinung zu bilden.« Eine wichtige Stimme.
Die Videos sind auf der Website www.kolot-stimmen.de zu sehen.