Portrait

»Shimon fehlt mir so«

»Er, der gerade 19 Jahre zählte, wollte die ganze Welt retten«: Irina Ivanova über ihren Sohn Foto: Douglas Abuelo

Portrait

»Shimon fehlt mir so«

Irina Ivanova versucht, über den Tod ihres Sohnes hinwegzukommen

von Steffen Reichert  12.07.2011 08:47 Uhr

Wie immer im Leben gibt es zwei Sichtweisen. Wenn ich aus dem Küchenfenster meiner neuen Wohnung schaue, dann blicke ich auf Stacheldraht. Hoch oben auf riesigen Mauern liegen die Rollen, die unverkennbar zu dem 125 Jahre alten Gefängnisbau gehören. Aber wenn ich auf der anderen Seite meines Apartments bin, dann kann ich die Nachtigallen hören. Ein heller und reiner Gesang durchflutet mein Schlafzimmer, und wenn ich die Augen schließe, ist es, als ob mein verstorbener Sohn zu mir spricht.

Insofern ist es eine schöne Wohnung, in die ich vor ein paar Wochen gezogen bin. Zwei Zimmer, Küche, Bad in einem sanierten Plattenbau – und das mitten im Stadtzentrum von Dessau, bezahlbar und zentral zugleich.

Noch stehen zwar etliche Kartons herum, die ausgepackt werden müssen. Noch ist der Elektroherd nicht angeschlossen, der Küchenschrank ist zehn Zentimeter zu lang und passt deshalb nicht, und Handyempfang gibt es auch nur auf dem Balkon.

Einsam Aber wenn ich mir vorstelle, wie ich zuvor gelebt habe, ist mein neues Zuhause natürlich eine enorme Verbesserung. Es ist in jeder Hinsicht wie ein Neuanfang. Zuletzt habe ich in einem Abriss- haus gelebt, das inzwischen nicht mehr steht. Die letzten vier Monate vor meinem Auszug war ich ganz allein in diesem Haus.

Doch die Einsamkeit hat mir nicht gut getan, auch, weil mir zuvor meine netten Nachbarn am Schabbat immer geholfen haben. Sie zündeten mir das Licht an, kochten Tee und nahmen mir andere wichtige Arbeiten ab. In meinem neuen Haus kenne ich die Nachbarn noch nicht, ich habe noch niemanden gefragt, ob er mir am Schabbat helfen kann. Es braucht seine Zeit.

Ich bin sehr religiös und nehme die Vorschriften ernst. Das mag ungewöhnlich klingen. Denn ich habe erst durch meine Kinder zum Judentum gefunden. Normalerweise ist es ja genau umgekehrt. Zu Hause in Chisinau, damals zu Sowjetzeiten, spielte es für mich keine Rolle, dass ich Jüdin bin.

Meine Eltern stammten aus Baku und mussten 1957 aus beruflichen Gründen nach Moldawien umziehen. Mutter war Meteorologin, mein Vater forschte an einem landwirtschaftlichen Institut und war Vorsitzender des örtlichen Kriegsveteranenkomitees. Beide sind in Chisinau beerdigt, und es bedrückt mich sehr, dass ich ihr Grab seit der Auswanderung nicht wieder besucht habe, weil ich die Reise nicht bezahlen kann.

Ich habe in Moskau Anglistik studiert. Sechs Jahre war ich an der Uni. Das Studium wurde mehrmals durch den Mutterschutz unterbrochen. Ich habe vier Kinder zur Welt gebracht. Es war eine gute Zeit, wenn man mal davon absieht, dass ich an der wissenschaftlichen Akademie von Moldawien zwar als Dolmetscherin gearbeitet, aber während der Perestroika drei Jahre lang einfach kein Gehalt bekommen habe. Mit einer Ziege, von der wir Milch und Käse verkauften, haben wir überlebt. Das war hart, die Wohnung so schlecht und kalt. Einen weiteren Winter hätten wir es in diesem Haus nicht ausgehalten.

Gebete Als meine Tochter dann Anfang der 90er in ein jüdisches Sommercamp fuhr, musste ich ihr eines Tages warme Sachen bringen. Ich tat das an einem Freitag – ohne vom Schabbat und dessen Regeln zu wissen. Aber der Besuch und die Aufklärung darüber waren die ersten Schritte zum Judentum, von dem ich heute sage, dass es mir so viel Halt gibt. Jeden Tag bete ich zweimal, manchmal lese ich schon frühmorgens im Siddur.

Die materiellen Dinge sind dagegen nicht wichtig für mich. Ich bin Frutarierin, das heißt, ich lebe ausschließlich von Obst und Gemüse. Wenn ich backe, dann für Freunde, meine Kinder oder den Enkel David. Meine Töchter studieren beide, die eine BWL in Leipzig, die andere Sozialpädagogik und Psychologie in Frankfurt. Mein ältester Sohn kam nicht mit nach Deutschland. Und dann ist da noch Shimon, den es nun seit drei Jahren nicht mehr gibt.

Er fehlt mir seit diesem Unfall so unendlich. Er war so offen, so herzlich, mir so seelenverwandt. Er hat sich in Dessau bei Greenpeace engagiert, er wollte später in eine Partei eintreten. Er war ein Sprachgenie, hat Mathe als Poesie begriffen und Gelder für die Menschen in Ecuador gesammelt. Er, der gerade 19 Jahre zählte, wollte die ganze Welt retten. Nur sich selbst zu retten, da fehlte ihm die Kraft.

Er hat ein schönes Grab hier auf dem jüdischen Friedhof der Stadt. Ich wollte natürlich, dass er einen Stein bekommt und eine Einfassung rund ums Grab. Ich habe das geschafft, auch wenn diese Summe für jemanden wie mich, die seit ihrer Ankunft 2003 arbeitslos ist, ungeheuer viel Geld bedeutet. Aber die Grabmalwerkstatt ist sehr entgegenkommend. Ich kann meine Schulden Monat für Monat mit einem kleinen Betrag abstottern.

Dazu addieren sich aber noch die Schulden für die Reisepässe. Ein moldawischer Pass kostet 500 Euro und ist nur fünf Jahre gültig. Wenn man ihn nicht rechtzeitig verlängert, kommt noch eine Strafe hinzu. Ich habe die Pässe damals auf Drängen meines inzwischen geschiedenen Mannes beantragt.

Wegen der deutschen Geschichte – mein Vater hat im Krieg alle Verwandten verloren – wollte ich eigentlich niemals hierher. Doch mein Ex-Mann wollte es wegen der Zukunft der Kinder. Nun ja, sicherlich war es richtig. Aber solange ich auch diese Schulden nicht beglichen habe und damit aus der moldawischen Staatsbürgerschaft entlassen werde, kann ich auch die deutsche nicht beantragen und unterstehe weiter der Ausländerbehörde. Ein Teufelskreis.

Kater Damit mir die Decke nicht auf den Kopf fällt, bin ich eigentlich Tag für Tag unterwegs. Mein Perser Schnurr ist somit viel allein. Ich will mit meinem Handeln auch das Vermächtnis meines Sohnes erfüllen.

Ich betreue Kinder- und Jugendgruppen, sei es bei der Caritas, im Frauenhaus oder im Jugendtreff. Ich spiele mit ihnen und erzähle über das Judentum, den Glauben, die Faszination. Ich sammle Spenden für Kinder, sei es Spielzeug oder Kleidung, Nahrung oder Literatur. Mir ist es wichtig, etwas Gutes zu tun, ohne groß darüber zu reden. Man muss es einfach tun.

Und dann werde ich über das Arbeitsamt immer wieder mal tageweise als Dolmetscherin vermittelt. Ich spreche ja vier Sprachen: neben Russisch und Englisch auch Rumänisch, was in Moldawien die Verwaltungssprache ist. Leider konnte ich in dieser Nische keinen Job finden.

Ich habe mich selbst auf Stellen im Pflegebereich beworben: 400, vielleicht auch 500 Bewerbungen sind da über die Jahre zusammengekommen. Heute bin ich 53. Bei meiner Ankunft habe ich noch fest geglaubt, dass ich eine Arbeit finde. Aber man hat keine Chance.

Es ist insgesamt ein ruhiges Leben, das ich führe. Ich schaue wenig fern, es kommen doch vor allem Soaps und Krimis. Ich lese viel. In der Bibliothek lachen sie schon und sagen, ich hätte doch schon jedes Buch ausgeliehen. Den eigentlichen Halt aber finde ich in der Religion.

Manchmal, wenn ich einen Regenbogen sehe, dann denke ich an meinen Shimon. Ich habe ihn früher immer angerufen und gesagt, er soll schnell aus dem Fenster schauen, die Farben sind so toll. Als er nicht mehr lebte, habe ich die leuchtenden Farben lange Zeit nicht gesehen. Im Russischen heißt Regenbogen »Raduga«. Sich zu freuen heißt »radowatzja«. Das klingt ähnlich. Und tatsächlich: Ich sehe wieder den Regenbogen und beginne, mich zu freuen.

Aufgezeichnet von Steffen Reichert

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