Frankfurt/Main

Selbstverständlich mittendrin

Selbstbestimmtes Leben in der Wohngemeinschaft: Pinchas Kranitz hilft dennoch ab und an bei der Hausarbeit. Foto: Rafael Herlich

Selbst eine jiddische Mamme muss sich damit abfinden: Irgendwann sind die Kinder erwachsen, wollen auf eigenen Beinen stehen und ziehen zu Hause aus. Ihren Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben können sich in Frankfurt nun auch jüdische Menschen mit Behinderung erfüllen: Nach knapp einem Jahr »Anlaufzeit« wurde in der vergangenen Woche das Kooperationsprojekt »Betreutes Wohnen« offiziell eröffnet.

Träger des Projekts sind die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und der Internationale Bund (IB). Unterstützung erhält das »Betreute Wohnen« auch von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und der Aktion Mensch: Mit 124.000 Euro hat sie unter anderem den behindertengerechten Umbau der Wohnungen finanziert.

Seit nunmehr zehn Monaten leben der 37-jährige Maxim und der 48-jährige Michael gemeinsam in einer Drei-Zimmer-Wohnung im Personalwohnhaus des jüdisch-christlichen Seniorenzentrums »Henry-und-Emma-Budge-Stiftung«. Maxim war zuvor in einem Heim in Homberg/Ohm untergebracht, seine Eltern leben in Frankfurt. Michael kommt aus Mainz, wo er mit seiner Mutter zusammen lebte. Eine weitere umgebaute Zwei-Zimmer-Wohnung im Personalwohnhaus der Stiftung hat vor Kurzem hat die 35-jährige Luba bezogen.

Anbindung Die organisatorische und räumliche Anbindung an das Heim bietet zahlreiche Vorteile, berichtet Pinchas Kranitz, der von der IB angestellt ist und die drei persönlich und pädagogisch betreut. So könnten Maxim, Michael und Luba selbstständig die Synagoge besuchen und auch die übrige jüdische Infrastruktur des Seniorenzentrums nutzen.

»Das funktioniert immer besser«, zieht Kranitz ein positives Zwischenfazit zum Projekt und lobt seine Schützlinge: »Sie meistern ihr Leben zunehmend eigenständig.« Ihr Essen bereiten sich die drei bereits selbst zu oder nutzen die Möglichkeit, sich im Budge-Heim an den gedeckten Tisch zu setzen.

Michael und Maxim haben zudem Arbeit in den »Praunheimer Werkstätten« gefunden: »Das verleiht ihrem Tag eine Struktur«, betont Kranitz, der seit 20 Jahren mit behinderten Menschen arbeitet. Luba befindet sich noch in der Eingewöhnungszeit – was Kranitz als Neu-Frankfurter gut nachempfinden kann.

Von der schwierigen Überzeugungsarbeit, die die Projektträger am Anfang leisten mussten, berichtete Benjamin Bloch, Direktor der ZWST bei der Eröffnungsfeier: Es sei ein »hartes Stück Arbeit« gewesen, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Eltern davon zu überzeugen, ihre »Kinder« in ein betreutes Wohnen zu entlassen.

»Zunächst sind wir auf eine Mauer des Schweigens gestoßen«, schilderte Bloch. Die Menschen seien es aus ihrer alten Heimat gewohnt gewesen, ihre behinderten Familienangehörigen aus Scham vor öffentlicher Diskriminierung tunlichst zu Hause zu verstecken. »Viele dieser Eltern leben in einer doppelten Isolation«, mahnte auch Ebi Lehrer, Vorsitzender der ZWST: »Sie sprechen kein Deutsch und wissen nicht, dass es Angebote und Hilfen für Behinderte gibt.«

Mizwa An die jüdische Selbstverpflichtung zur Mizwa erinnerte denn auch Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland: »Der moralische Wert einer Gesellschaft wird daran gemessen, wie sehr sie sich um ihre Schwächsten kümmert«, forderte er alle Beteiligten zu mehr Engagement auf. Auch die Jüdische Gemeinde in Frankfurt hätte in den vergangenen Jahren mehr tun können, konstatierte Graumann durchaus selbstkritisch.

Mit dem Projekt »Betreutes Wohnen« sah Graumann die Verpflichtung des Kümmerns um ein maßgebliches Stück erfüllt und lobte die Angliederung ans Budge-Heim: »Hier kann man den jüdischen Spirit fühlen.« Denn das Judentum sei »eine Medizin, die man in keiner Apotheke kaufen kann. Kein Allheilmittel, aber garantiert nebenwirkungsfrei.«

Modellprojekt Susanne Messner-Spang, Vertretung des Vorstandes von Aktion Mensch, nannte das »Betreute Wohnen« ein Modellprojekt für die neuerdings allerorten geforderte Inklusion – die Einbindung behinderter Menschen in den normalen Alltag, von der Krabbelstube bis zum Altersheim. »Das Besondere an Ihrem Projekt ist, dass Sie ein Netzwerk aus verschiedenen Institutionen geschaffen haben«, lobte Messner-Spang. »Sie können stolz darauf sein!«

Michael, Maxim und Luba waren bei der Eröffnungsveranstaltung sichtlich stolz. Für sie hatte an diesem Tag das Motto des IB, »Selbstverständlich mittendrin!«, eine neue Dimension angenommen, die sie – von außen betrachtet – zwar verunsicherte, aber glücklich machte.

Ansprechpartner für »Betreutes Wohnen«:
ZWST: 069/94 43 71 31, IB: 069/9 04 39 84 30.

Berlin

Zentralrat der Juden begeht sein 75. Jubiläum

Die Dachorganisation der jüdischen Gemeinden lud zahlreiche Gäste aus Politik und Zivilgesellschaft nach Berlin. Der Bundeskanzler hielt die Festrede

von Imanuel Marcus  17.09.2025

Meinung

Die Tränen des Kanzlers

Bei seiner Rede in München gab Friedrich Merz ein hochemotionales Bekenntnis zur Sicherheit jüdischen Lebens ab. Doch zum »Nie wieder dürfen Juden Opfer werden!« gehört auch, den jüdischen Staat nicht im Stich zu lassen

von Philipp Peyman Engel  17.09.2025

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Auszeichnung

Düsseldorfer Antisemitismusbeauftragter erhält Neuberger-Medaille

Seit vielen Jahren setze sich Wolfgang Rolshoven mit großer Entschlossenheit gegen Antisemitismus und für die Stärkung jüdischen Lebens in Düsseldorf ein, hieß es

 16.09.2025

Erinnerung

Eisenach verlegt weitere Stolpersteine

Der Initiator des Kunst- und Gedenkprojekts, Gunter Demnig aus Köln, die Stolpersteine selbst verlegen

 16.09.2025

Porträt der Woche

Passion für Pelze

Anita Schwarz ist Kürschnerin und verdrängte lange das Schicksal ihrer Mutter

von Alicia Rust  16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  17.09.2025 Aktualisiert

Sachsen-Anhalt

Erstes Konzert in Magdeburger Synagoge

Die Synagoge war im Dezember 2023 eröffnet worden

 15.09.2025

Thüringen

Jüdisches Bildungsprojekt »Tacheles mit Simson« geht erneut auf Tour

Ziel des Projektes sei es, dem Aufkommen von Antisemitismus durch Bildung vorzubeugen, sagte Projektleiter Johannes Gräser

 15.09.2025