Porträt der Woche

Offen für die Zukunft

»Ich mag Gesellschaften, die aus vielen Kulturkreisen bestehen«: Anna Levinson (28) Foto: Gregor Zielke

Porträt der Woche

Offen für die Zukunft

Anna Levinson dreht Animationsfilme und genießt ihre künstlerische Freiheit

von Robert Kalimullin  27.06.2016 20:11 Uhr

Ich habe nie groß überlegt, was mein Beruf werden sollte. Schon mit 16 stand für mich fest: Ich will Filme machen. So habe ich mich nach Schule und Auslandsaufenthalten in Rumänien und Indien auch an Filmhochschulen in Deutschland und Österreich für ein Regiestudium beworben.

Drei Jahre habe ich es versucht, es hat aber nie geklappt. Eher spaßeshalber habe ich in Babelsberg als Gasthörerin Kurse in Animation belegt und dann festgestellt, dass ich das viel spannender finde, als mit realen Figuren zu arbeiten. Nach vier Jahren Studium bin ich heute freiberufliche Animatorin und habe viel zu tun.

Geboren bin ich in Russland, in Moskau, und bin dann mit meinen Eltern mit sieben Jahren nach Deutschland gekommen. Meine Eltern hatten Anträge in verschiedenen Ländern gestellt – neben Deutschland waren Kanada, die USA und Israel im Spiel –, und Deutschland hat am schnellsten geantwortet. Es war eine sehr lange Zugfahrt, man fährt, glaube ich, zwei Nächte und einen ganzen Tag, für eine Siebenjährige ist das ganz schön lang. Und spannend war es auch – es war ja das erste Mal, dass ich Russland verließ, ebenso wie für meine Eltern.

Russland Mein erster Gedanke, als ich nach Deutschland kam, war, dass hier alles einen Zaun hat. Es ist alles irgendwie eingezäunt, nicht einfach mit Zäunen, sondern mit Büschen, die perfekt geschnitten sind, mit Hecken also. Nach der Ankunft wurde ich gleich gefragt, in welche Klasse ich denn gehe. In Russland hatte ich nur die erste Klasse besucht, und ich dachte mir, ach, dann will ich in die dritte.

Es kann sein, dass das ein Missverständnis meinerseits war, doch ich habe nie die zweite Klasse besucht, aber dann zweimal die dritte, denn natürlich konnte ich ja noch nicht so richtig Deutsch. Der Anfang war auch kulturell schwierig, weil natürlich in Deutschland ganz andere Erziehungsmaßstäbe gelten als in Russland. In Deutschland haben die Kinder die Angewohnheit, immer zu fragen: »Kriege ich das?« In Russland fragt man so etwas nicht, es sei denn, es wird einem etwas angeboten. Für mich war es in Deutschland ein Schock, wenn ich mit meinem Pausenbrot ankam, und am Ende blieb mir selbst kaum etwas übrig.

Etwa zwei Jahre hat es gedauert, bis ich Freunde gefunden habe. Meine Eltern fanden Jobs in Hannover, und ich hatte dann eine feste Klasse – das sind Leute, die kenne ich heute noch, Freunde, die einen unterstützten. In Moskau war ich nie wieder, dafür einmal in Sankt Petersburg, wo meine Mutter herkommt. Es ist ein spannendes Gefühl, wenn man sich vorstellt: Ich komme von dort, hier sind irgendwie meine Wurzeln, aber meine Kultur ist heute so anders. Ich fand die Kultur dort sehr unhöflich: Wenn du ein Freund bist, bist du der allerbeste Freund, aber wenn die Leute miteinander auf der Straße kommunizieren, ist das schon ein sehr harter Umgang.

Oder im Theater, da gibt es verschiedene Ticketpreise für russische Staatsbürger und für Ausländer. Aber ich glaube, wenn man selbst von woanders kommt, ärgert man sich umso mehr über diese Kultur. Das ist ja das Gleiche, als wenn man einem Deutschen auf Mallorca begegnet und sich denkt: Ist ja peinlich. Russisch ist zwar meine Muttersprache, aber ich habe die Sprache nie so perfektionieren können wie Deutsch, ich beherrsche keine Umgangssprache.

Vokabeln Und ich merke, es fehlen mir so viele Vokabeln, um mich auszudrücken, dass ich dadurch eine Wut gegen mich selbst entwickle. Ich glaube, deswegen habe ich einen größeren Bezug zu Deutschland oder zu Deutsch selbst, weil ich in dieser Sprache alles sagen kann, was ich denke oder wie ich mich fühle. Ich glaube wirklich, Sprache hat einen großen Anteil an dem, was Zugehörigkeit ausmacht.

In Berlin wohne ich seit sieben Jahren, und hier ist mein Zuhause. Ich glaube, Zuhause ist ja sowieso immer dort, wo die Freunde sind, wo man sich geborgen fühlt.

Seit zwei Monaten lebe ich in Kreuzberg, und ich mag die multikulturelle Atmosphäre hier. Ich finde das unglaublich schön. Ich reise auch selbst gerne. Und wenn ich zu Hause bin, mag ich es, das Gefühl zu haben, dass das eine Gesellschaft ist, die aus so vielen Kulturkreisen besteht. Dass ich sagen kann: Ich gehe jetzt Koreanisch essen, oder ich kann mit Leuten zu tun haben, die einen ganz anderen Background haben als ich. Dabei geht es sehr viel um Austausch.Das Judentum wurde in meiner Familie eigentlich nicht gelebt. Ich glaube, so geht es aber den meisten, die aus der Sowjetunion kamen. Schabbat ist bei uns nie gefeiert worden. Mit zunehmendem Alter hat meine Mutter immer mehr Interesse am Judentum gezeigt, hat gegoogelt, wie das geht mit den Feiern.

Für mich ist es so, dass ich in eine jüdische Familie geboren wurde, aber im religiösen Sinne wenig Bezug dazu habe. Ich bin sehr atheistisch erzogen worden. Ich mag Hummus, und ich war auch einmal in Israel und fand das spannend. Und ich bekomme jedes Jahr von meinen Eltern einen Anruf zu diesen ganzen Feiertagen – herzlichen Glückwunsch, es ist Chanukka –, so etwas dann schon. Vielleicht deswegen kann ich auch Walter Lustig so gut verstehen, den früheren Direktor des Jüdischen Krankenhauses in Berlin-Wedding, der die Einrichtung in der Zeit des Zweiten Weltkrieges leitete – um ihn geht es in meinem aktuellen Filmprojekt.

Er ist mir ähnlich in dem Sinne, dass er zwar aus einer jüdischen Familie kommt, aber nicht religiös aufgewachsen ist. Er war Wissenschaftler, ihm konnte man nichts von der Tora erzählen, sondern es musste schwarz auf weiß akademisch nachgewiesen sein. Ich glaube, so ging es damals vielen Leuten, die plötzlich in dieser Situation waren, dass sie abgestempelt worden sind. Darum geht es auch in dem Film: dass man sich in eine Ecke gepackt fühlt, der man sich nicht unbedingt zugehörig fühlt. Ich kann mich mit Walter Lustig sehr gut identifizieren. Ich glaube, das macht es für mich persönlich auch einfach, diese Figur wieder zum Leben zu erwecken.

grenzen Doktor Lustig soll ein 90-minütiger Langfilm werden, aber komplett als Animation. Diese Kunstform steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Viele Menschen und auch Förderer verbinden Animation mit Kinderfilmen. Für mich liegt der Reiz der Animation darin, als Künstler völlig frei zu sein, alles zu machen, was ich will – es gibt keine Grenzen.

Ein und dasselbe Café könnte man in 1000 verschiedenen Stilen darstellen, und jeder Stil würde schon eine andere Stimmung vermitteln, etwa schwarz-weiß, mit ziemlich starken Konturen und Kontrasten, oder aber bunt und mit sehr weichen Formen. Im Vergleich zu anderen Künstlern, anderen Animatoren, die ich kenne, suche ich mir einen Stil aus, der schnell geht, weil ich nie die Geduld habe, dass etwa das Haar noch eine bestimmte Nachbewegung macht. Meine Arbeiten bekommen dadurch etwas Gekritzeltes, aber lustigerweise funktioniert es. Der Stil muss nicht immer perfekt ausgearbeitet sein, damit eine Geschichte rüberkommt.

Mein Beruf ist auch mein Hobby. Wenn ich im Park sitze und eine lustige Szene sehe, schreibe ich sie auf, weil ich mir denke: Daraus kann man bestimmt noch etwas entwickeln. Ich finde, es ist als Freiberufler wirklich schwer, zwischen Arbeit und Freizeit zu trennen, denn jede Freizeit geht irgendwie auch in neue Inspiration und Ideen über. Aber belastend finde ich das nicht, denn es sind meine persönlichen Projekte. Belastend sind für mich nur Projekte, bei denen ich auf Kommando kreativ sein soll.

Spontan Die Zukunft lasse ich eher auf mich zukommen. Ich habe das Gefühl, mein Leben funktioniert so, dass ich etwa bis nächste Woche den Plan weiß – alles Weitere ist offen. Natürlich gibt es Wünsche und Ziele, die ich mir setze, und hoffe, dass es irgendwann klappt. Aber eigentlich bin ich mehr der Mensch, der spontan schaut. Und in meinem Beruf funktioniert es auch nicht anders, denn oft kriege ich Anrufe mit der Frage, ob ich morgen Zeit für einen Auftrag habe.

Meinen Eltern bin ich sehr dankbar, dass sie mir nie Grenzen gesetzt und etwa verlangt haben, ich solle Mathematik studieren, weil das besser für den Lebenslauf ist. Und wenn ich einmal Kinder habe, wäre es mir auch wichtig, dass sie die Möglichkeit haben, alles zu machen, was sie sich wünschen. Auch wenn manche Erfahrungen weniger gut sind, glaube ich, man muss sie selbst gemacht haben, um dann zu verstehen, wie es wirklich ist.

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