Meinung

Nathan ist zurück

Irene Miziritska Foto: Privat

Meinung

Nathan ist zurück

Warum es längst überfällig gewesen ist, dass die Buchstabiertafel mit jüdischen Namen wieder gilt

von Irene Miziritska  31.12.2020 08:20 Uhr

Nathan ist zurück! Diese positive Nachricht zum Ende des Jahres 2020 ist zwischen den vielen großen negativen Meldungen fast untergegangen. Die Rede ist von der Neuauflage der Buchstabiertafel aus der Weimarer Republik. Und doch verdient diese Nachricht mehr Gehör und eine nähere Betrachtung. Denn nein, es geht hier nicht einfach darum, wie wir in Zukunft dem Apotheker am Telefon den komplizierten Namen eines Medikaments buchstabieren, es geht um viel mehr.

Aber von vorne: Im Jahr 1934 verschwanden jüdische Namen von der Buchstabiertafel und wurden ausgetauscht: aus Jacob wurde »Jot«, aus David wurde Dora, aus Nathan wurde Nordpol, aus Samuel wurde Siegfried, aus Zacharias wurde Zeppelin.

Mit der Änderung 1934 sollten jüdische Namen von der Buchstabiertafel »ausgemerzt« werden.

Bei der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 wurden einige der Änderungen nicht zurückgenommen, so blieb es bei Nordpol und Dora. Jetzt soll im kommenden Jahr 2021 auf Initiative des baden-württembergischen Antisemitismusbeauftragten Michael Blume die Buchstabiertafel der Weimarer Republik wieder neuveröffentlicht werden und gelten, wie das Deutsche Institut für Normierung mitteilt.

Das hat nächstes Jahr – es ist das Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« – natürlich erst einmal Symbolcharakter, aber für mich geht es weit über bloße Symbolik hinaus.

Mit der Änderung 1934 sollten jüdische Namen von der Buchstabiertafel »ausgemerzt« werden, genauso wie die Nationalsozialisten auch einige Jahre später alle Juden ausmerzen wollen. Die Konzentrationslager bildeten den Höhepunkt der Verfolgung, ihnen ging ein schrittweiser Prozess der Ausgrenzung und Diskriminierung voraus. Ein Prozess, durch den aus Mitbürgern Feinde des Deutschen Volkes werden sollten. Der Aprilboykott 1934, die Nürnberger Gesetze 1935, die Reichspogromnacht 1938 – all das waren Etappen der Eskalation.

Die Änderung der Buchstabiertafel bildete auch einen Schritt auf diesem Weg der Ausgrenzung und Diskriminierung. Juden, die in der Weimarer Republik zum alltäglichen Stadtbild gehörten, sollten ihrer Zugehörigkeit und Normalität beraubt werden, sie sollten aus dem Alltag der »Deutschen« verschwinden. Das sollte anfangs ganz beiläufig, ja fast »natürlich« passieren. Da war die Buchstabiertafel ein guter Ansatzpunkt, schließlich war sie etwas Alltägliches und gleichzeitig machten sich die meisten Deutschen darüber keine großen Gedanken, sie war schließlich nur Mittel zum Zweck.

Es sind Leerstellen wie diese, die uns im Alltag nicht auffallen. Ein Stückchen jüdischer Normalität, die dort einmal bestand und einfach verschwunden ist.

Aber das war nicht das einzige, was durch die Abänderung der Buchstabiertafel erreicht werden sollte. Juden sollten schrittweise ihrer Identität beraubt werden, und es gibt fast nichts identitätsstiftenderes für einen Menschen als den eigenen Namen. Der Name trägt eine Lebensgeschichte mit sich und hat gerade auch im Judentum einen großen Stellenwert; er kann sowohl religiös als auch mit Traditionen begründet werden.

1934 wurden jüdische Namen auf der Buchstabiertafel ausgetauscht, wenige Jahre später wurden den Juden in den Konzentrationslagern ihre Namen genommen und durch Nummern ersetzt. Juden wurden so ihrer Identität und Würde beraubt. Bis heute rezipieren wir alljährlich das wirkmächtige Gedicht »Jeder Mensch hat einen Namen« von Zelda Schneersohn Mishkovsky am Holocaust-Gedenktag. Es ging 1934 eben nicht nur einfach um irgendeine Buchstabiertafel.

Auch ich habe am Telefon schon mehrmals N wie Nordpol gesagt. Dabei war mir gar nicht bewusst, dass dies einmal N wie Nathan hieß. Und es wird wohl vielen Menschen so wie mir gehen. In Tausenden Büros hängen aktuell Buchstabiertafeln mit von den Nationalsozialisten eingeführten Änderungen. Die wenigsten wissen davon oder machen sich darüber Gedanken. Es sind Leerstellen wie diese, die uns im Alltag nicht auffallen. Ein Stückchen jüdischer Normalität, die dort einmal bestand und einfach verschwunden ist.

»Neumann mein Name, N wie Nathan, E wie Emil« - auch das ist ein Stück deutsch-jüdische Normalität.

Genau deshalb sollte die Buchstabiertafel wieder ihre ursprüngliche Form annehmen: Judentum soll noch ein Stückchen mehr wieder in den deutschen Alltag Einzug finden, dorthin zurück wo es einmal war, »normal« sein. Indem man es dort antrifft, wo man nicht darüber nachdenkt.

In Deutschland sollte man dem Judentum also nicht nur im Zusammenhang mit Antisemitismus oder Israel begegnen, nicht nur an ausgewählten Daten wie dem 9. November oder dem Holocaust-Gedenktag, sondern unbemerkt, beiläufig im Alltag. Genauso wie es normal ist, wenn jemand das Wort »meschugge« oder die Redewendung »nicht ganz koscher« in einem Gespräch verwendet, so sollte es auch bald wieder heißen: »Neumann mein Name, N wie Nathan, E wie Emil.«

Die Autorin ist ELES-Stipendiatin und lebt in München.

München

Das Schweigen brechen

Stephan Lebert und Louis Lewitan stellten ihr neues Buch »Der blinde Fleck« über ein deutsches Tabu und seine Folgen vor

von Helen Richter  03.07.2025

Sport

Fit mit Makkabi

Schmerzt der Rücken? Fehlt die Kraft? Wir haben vier Übungen für alle, die fit im Alltag werden wollen. Gezeigt hat sie uns Noah von Makkabi

von Katrin Richter  03.07.2025

Berlin

»Wie vorm Berghain«

Avi Toubiana über das Kosher Street Food Festival, organisatorische Herausforderungen und Warteschlangen

von Helmut Kuhn  03.07.2025

Lesung

Familiengeschichten

Der Autor Daniel Zylbersztajn-Lewandowski stellte im »taz-Café« zwei Bücher über seine Vorfahren vor – und lernte bislang unbekannte Verwandte kennen

von Alicia Rust  03.07.2025

Chemnitz

Marx und Mikwe

Die Jüdische Gemeinde präsentiert sich im Kulturhauptstadtjahr zwischen Baustelle, Geschichte und Begegnung. Ein Ortsbesuch

von Anett Böttger  02.07.2025

Meinung

Nicht ohne meine Klimaanlage!

Warum sich Deutschland im Sommer an Israel ein Beispiel nehmen sollte

von David Harnasch  02.07.2025 Aktualisiert

Interview

Das hilft wirklich gegen zu viel Hitze und Sonne

Yael Adler über die Frage, wie wir uns am besten schützen können und was wir im Sommer von den Israelis lernen können

von Philipp Peyman Engel  02.07.2025 Aktualisiert

Bayern

Als Rassist und Antisemit im Polizeidienst? Möglich ist es …

Der Verwaltungsgerichtshof München hat geurteilt, dass Beamte sich im privaten Rahmen verfassungsfeindlich äußern dürfen, ohne deswegen mit Konsequenzen rechnen zu müssen

von Michael Thaidigsmann  01.07.2025

München

Gedenken in schwerer Zeit

Die Stadt erinnerte an jüdische Opfer des NS-Regimes. Die Angehörigen aus Israel konnten wegen des Krieges nicht anreisen

von Luis Gruhler  01.07.2025