Biografie

Nachrichten aus Deutschland

»Es gibt Leute, die viel Schlimmeres erlebt haben«: Huguette Herrmann Foto: Gregor Zielke

Eigentlich heißt sie Huberte. »Aber Huguette klingt doch viel hübscher, sagte meine Tante, sie sei gesegnet, und so blieb es dabei«, sagt Huguette Herrmann. In ihrer Wohnung in der Chausseestraße in Mitte hört man die Baustelle. So ganz hat sie sich damit noch nicht angefreundet. Mit 84 Jahren ist noch einmal umgezogen. Nach mehr als einem halben Jahrhundert, das sie in Marbach verbracht hat.

Huguette Herrmann ist leidenschaftliche Cineastin. In ihrem Bücherschrank stapeln sich neben der Literatur die Filmklassiker, und wenn man ihr bei Tee und Gebäck gebannt zuhört, ist es ein bisschen, als verwandle sich ihr Wohnzimmer selbst in einen Kinosaal. Darin spult sich ein Leben ab von der Kindheit in Antwerpens quirligem jüdischen Viertel über Londons Straßen bis nach Berlin. Ihre Muttersprache ist Französisch. Sie beherrscht die deutsche Sprache wie Thomas Mann und schrieb ihre Memoiren im Englisch des Oscar Wilde. Bo, Jenny, and I heißt das Buch, das 2012 in Boston erschien.

brüssel Geboren wurde sie 1928 in Brüssel. Ihr Vater war der beste Schachspieler Belgiens, »aber im Leben untüchtig«, sagt sie. Ihre Kindheit verbrachte sie in Antwerpen. 1929 lebten in ganz Belgien 25.000 Juden. »Das jüdische Leben Antwerpens konzentrierte sich auf einen Teil der Stadt, es war fast wie ein freiwilliges Ghetto.«

Großmutter »Bo« stammte aus Odessa. »Wahrscheinlich abgekürzt vom jiddischen Bobbe, oder auch von Bonne-Maman. Sie hasste Männer, hat aber dreimal geheiratet.« 1904 emigrierte sie mit Huguettes Großvater über Antwerpen nach New York, kam aber ein Jahr später zurück, weil ihr das jüdische Viertel in der belgischen Hafenstadt so gut gefallen hatte.

Bo hatte fünf Töchter und betrieb ein kleines Geschäft für Spitzen. Huguettes Mutter Jenny landete, »wie in ostjüdischen Kreisen üblich, in einer arrangierten Ehe«. Und bald lebten Jenny, Huguette und Bo unter einem Dach. »Mutter hatte viele Affären, sehr zum Missfallen von Bo.« Darüber kann sie heute herzlich lachen. »Mutter heiratete ein zweites und Großmutter ein drittes Mal, und das hat uns das Leben gerettet.« Denn dieser dritte Mann von Bo war Engländer.

»Reichskristallnacht« 9. November 1938. In der »Reichskristallnacht« werden in Deutschland jüdische Geschäfte überfallen, Synagogen zerstört, Menschen misshandelt und verschleppt. »Man erzählte sich Schauergeschichten, aber die Erwachsenen haben das nicht geglaubt, auch die Juden nicht. Ich hab’s aber geglaubt, in toto«, sagt Huguette Herrmann. Dann marschierten die Deutschen in Belgien ein. »Am 13. Mai 1940 ist halb Antwerpen aufgebrochen. Meine Mutter zögerte. Ich bekam einen hysterischen Anfall. Ich will weg, ich will weg, schrie ich und stampfte auf den Boden. Das gab den Ausschlag.« Da war sie zwölf Jahre alt.

Sie landeten in La Panne an der französischen Grenze. Von dort aus gelangten sie nach Calais – wenige Tage später war die Grenze bereits geschlossen. Die Fähre wurde von der Luft aus angegriffen. »Eine Bombe fiel auf das Schiff, es war ein Zerstörer, der die Engländer aus Europa abholte, aber sie explodierte nicht.« Huguette Herrmann sieht auf. »Das ist ungefähr das Dramatischste in meinem Leben. Es gibt Leute, die viel Schlimmeres erlebt haben.«

Im zweiten Teil ihres Buches beschreibt sie ihre Jugend in England. Ihre Mutter sei eine große Leseratte gewesen. »Sie verliebte sich unentwegt, hatte aber keinen Instinkt für Charakter.« Wieder lebten sie zu dritt »in einer Art Familien-WG, und wir waren arm. Mutter arbeitete als Fremdsprachensekretärin, konnte aber mit Geld nicht umgehen.« Einen Luxus leisteten sie sich dennoch: »Wir gingen viel ins Kino, alle drei. Mutter übersetzte sotto voce ins Jiddische. So verstand ich auch die englischen Filme.« Wenn in den Wochenschauen Hitler erschien, pfiff das ganze Kino. Alle Stunde gab es Luftalarm.

england 1940 zogen sie nach Bedford. 1943 starb Jenny an Lungenentzündung. Huguette bekam ein Stipendium der belgischen Regierung. Sie studierte Französisch und Spanisch in London. 1945 verlobte sie sich mit einem amerikanischen GI. Sie war 17, und an dieser Stelle endet das Buch. Aber nicht ihre Geschichte, und überhaupt: »Männer!«. Huguette lacht.

Sie sind da und nicht da, in ihrem Leben wie im Leben von Jenny und Bo. Seit ihre Großmutter als junge Frau in New York die Perücke, die sie als fromme Jüdin trug und wegen der sie von ein paar Kindern ausgelacht wurde, kurzerhand in die Mülltonne warf, sind sie alle drei, jede auf ihre Weise, äußerst selbstbestimmte Frauen gewesen.

Ihren späteren Mann lernte Huguette über den Verein jüdischer Studenten kennen. Er war ein deutscher Jude, hatte eine geschiedene Frau und zwei Kinder in England. Nach der Hochzeit ging sie mit ihm nach Hamburg. Dort studierte sie nochmal Politik und Soziologie. Als Übersetzerin ernährte sie die Familie. »Da musste ich nicht putzen gehen, was ich sowieso nicht kann«, lacht sie wieder und winkt ab: Der Mann studierte »ewig«, 1964 dann die Scheidung.

übersetzerin Selbst ist die Mutter von fünf Töchtern. Die älteste war 13, die jüngste drei, es gab kaum Unterhalt, »das war ein bisschen die Hölle. Ich wusste ja, dass ich mit den Männern ein gewisses Erbe hatte«. Als Übersetzerin ging sie nach Stuttgart. »Ich war die erste Frau, die bei Daimler Benz auf der Betriebsversammlung sprach, hochschwanger noch dazu.« Schließlich gelangte sie ins Deutsche Literaturarchiv nach Marbach und jetzt, vor einem Jahr, nach Berlin.

Manchmal habe sie noch ein bisschen Heimweh, aber eigentlich bleibt dafür kaum Zeit. Eine Tochter ist mit Enkeln zu Besuch, Café, Museum. Mit der ältesten besucht sie in Potsdam Vorlesungen des Talmudisten Admid Kosman, »leider in sehr schlechtem Englisch«. Ja, und dann ist da noch die Literatur und das nächtliche Date mit ihren derzeitigen Filmlieblingen. Den Serien Borgen und West Wing, und, last not least, dem Tatort.

Dialog

Freunde wie Berge

Juden und Kurden verbindet eine jahrtausendealte Freundschaft. Um ein Zeichen der Gemeinsamkeit zu senden und sich des gegenseitigen Rückhalts zu versichern, kamen sie nun auf Einladung der WerteInitiative in Berlin zusammen

von Katrin Richter  10.09.2025

Literatur

»Es wird viel gelacht bei uns«

Der Historiker Philipp Lenhard und die Schriftstellerin Dana von Suffrin über den von ihnen gegründeten Jüdischen Buchklub, vergessene Klassiker und neue Impulse

von Luis Gruhler  09.09.2025

Ausstellung

Lesen, Schreiben, Sehen, Handeln, Überleben

Im Literaturhaus München wird das Leben der amerikanischen Denkerin und Publizistin Susan Sontag gezeigt

von Ellen Presser  09.09.2025

München

Spur der heiligen Steine

Es war ein Sensationsfund: Bei Baumaßnahmen am Isarwehr wurden Überreste der früheren Hauptsynagoge entdeckt. Der Schatz wird nun vom Jüdischen Museum erforscht

von Michael Schleicher  07.09.2025

Dialog

Gemeinsam stark

Fatma Keser ist Mitbegründerin von »Pêk Koach – Jewish-Kurdish Women’s Alliance«. Der Frauenverein will jüdische und kurdische Perspektiven vermitteln

von Pascal Beck  07.09.2025

Fürth

Ruth Weiss ist gestorben

Sie engagierte sich ihr Leben lang gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit. Nun ist die in Franken geborene Schriftstellerin mit 101 Jahren gestorben

 05.09.2025 Aktualisiert

München

»In unserer Verantwortung«

Als Rachel Salamander den Verfall der Synagoge Reichenbachstraße sah, musste sie etwas unternehmen. Sie gründete einen Verein, das Haus wurde saniert, am 15. September ist nun die Eröffnung. Ein Gespräch über einen Lebenstraum, Farbenspiele und Denkmalschutz

von Katrin Richter  04.09.2025

Erfurt

Studiengang »Jüdische Soziale Arbeit« offiziell gestartet

Zentralratspräsident Josef Schuster: Die Einrichtung des Studiengangs ist ein starkes Zeichen für die Lebendigkeit jüdischen Lebens in Deutschland

 04.09.2025

Hannover

»Wir sind hier und wir bleiben hier«

Im September wird die Liberale Jüdische Gemeinde 30 Jahre alt. Gegründet wurde sie einst von drei Frauen. Ein Gespräch mit Geschäftsführerin Rebecca Seidler über Generationen, Sicherheit und eine große Portion Optimismus

von Katrin Richter  04.09.2025