Porträt der Woche

Mutterseelenallein

»Ich kann es nicht lassen, mich mit dem Holocaust zu beschäftigen«: Eva Szepesi (80) Foto: Judith König

Porträt der Woche

Mutterseelenallein

Eva Szepesi hat als Kind Auschwitz überlebt. Ihre Familie kam um

von Canan Topçu  22.01.2013 10:14 Uhr

Für den 27. Januar habe ich mehrere Einladungen erhalten. Ich kann aber nicht am selben Tag an zwei, drei Veranstaltungen teilnehmen. Dazu hätte ich nicht die Kraft, auch wenn ich es organisatorisch einrichten könnte. Als Gast der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit werde ich am Holocaust-Gedenktag in Schwalbach am Taunus sein. Erst lese ich aus meinem Buch, anschließend gibt es ein Gespräch mit dem Publikum.

Obwohl ich schon viele Male vor Menschen saß, las und danach Fragen beantwortet habe, fällt es mir jedes Mal schwer. Es strengt mich sehr an, von meinen Erlebnissen zu berichten. Aber ich setze mich bewusst der schwierigen Situation aus, damit die junge Generation wachsam bleibt.

kindheit Ich bin eine Auschwitz-Überlebende. Bei der Befreiung war ich 13 Jahre alt. Aufgewachsen bin ich in einem Vorort von Budapest als Kind einer Kaufmannsfamilie. Der erste Teil meiner Kindheit war sehr schön. Doch dann änderte sich alles, nicht mal meine besten Freundinnen wollten mit mir reden.

Lange Zeit war es mir nicht möglich, über meine Kindheit, die Erlebnisse in Auschwitz und die Zeit danach zu sprechen. Mein Mann und meine Töchter wussten, dass ich in Auschwitz war, aber viel mehr eigentlich nicht. Ich konnte nicht über meine Erlebnisse reden, und sie haben nicht gefragt. Es gab da so eine Grenze, die nicht überschritten wurde. Es ging darum, den Alltag zu meistern, zu arbeiten, die Kinder großzuziehen und zu versuchen, ein normales Leben zu führen.

Töchter Wäre da nicht die Einladung nach Polen gewesen, und hätten mich meine Töchter Judith und Anita nicht ermutigt, die Reise anzutreten, dann wäre vielleicht vieles ganz anders gekommen. Heute gehe ich sogar zu den Treffen für Schoa-Überlebende hier in Frankfurt. Einmal in der Woche, mittwochnachmittags, findet es in der Loge an der Liebigstraße statt. Mal gibt es einen Vortrag, mal ein Konzert, oder aber wir sitzen einfach nur so zusammen, trinken Kaffee und unterhalten uns. Ich schaffe es allerdings nicht jedes Mal, dabei zu sein.

Einmal im Monat gibt es zudem in der Jüdischen Gemeinde ein Treffen der WIZO-Frauen. Ich bin immer wieder mal dort. Früher fand es dienstags statt, es ist aber auf den Mittwoch verlegt worden, nun überschneiden sich die Termine. Leider.

Kürzlich war ich auf einem mehrtägigen Seminar der Zentralwohlfahrtsstelle in Bad Sobernheim, es ging um religiöse Rituale, das war sehr interessant. An den Seminaren und Freizeitangeboten der ZWST habe ich schon oft teilgenommen, ja sogar mal einen Tanzkurs mitgemacht. Je älter ich werde, desto stärker wächst mein Bedürfnis, mehr über die jüdische Religion zu wissen.

dokumentationen Sonderbar ist auch ein anderes Interesse: Ich kann es nicht lassen, mich mit dem Holocaust zu befassen. Gerade habe ich ein Buch über ungarische Juden und ihre Deportation gelesen. Ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen. Es macht mich fertig, aber ich kann es nicht lassen, solche Bücher zu lesen. Ich weiß nicht warum. Wie eine Droge ist das. Ich habe schon sehr viele Bücher über das Nazi-Regime und den Holocaust gelesen, mir auch all die Dokumentationen und Filme darüber angeschaut. Krimis und Spielfilme, in denen es gewalttätig zugeht, gucke ich aber nicht.

Einerseits belastet es mich sehr, mit meiner Vergangenheit und der Geschichte konfrontiert zu sein, andererseits hat es eine starke Sogwirkung. Mit meinen Erlebnissen bin ich am 50. Jahrestag der Befreiung in Auschwitz konfrontiert worden. Ich nahm an der Gedenkfeier teil, war von der Shoah Foundation eingeladen worden. Mitarbeiter des Regisseurs Steven Spielberg wollten dort auch mit mir ein Interview führen. Zunächst habe ich abgelehnt. Meine Töchter haben mich aber ermutigt und sich bereit erklärt, mich nach Auschwitz zu begleiten.

Eher zufällig erfuhr ich, dass auch eine Gruppe von Jugendlichen aus der Jüdischen Gemeinde zur Gedenkfeier reisen würde. Wir sind zusammen nach Krakau geflogen. Abends im Hotel, noch vor den offiziellen Terminen, saßen wir alle beisammen – meine Töchter und ich, die Jugendlichen und Benni Bloch, der Leiter der Zentralwohlfahrtsstelle. Er sprach mich direkt an und sagte: »Erzähl doch mal von deiner Kindheit und über dein Leben!« Plötzlich begann ich zu erzählen: Von meiner Kindheit in Ungarn, von meiner Mutter, die mich im Frühjahr 1944 mit einer Tante in die Slowakei geschickt und mir vorher versprochen hatte, dass sie mit meinem Bruder nachkommen würde. Sie kamen aber nicht nach. Jahre später erfuhr ich, dass auch sie nach Auschwitz deportiert worden waren. Sie überlebten nicht.

In der Slowakei hatten mich Verwandte bei zwei mir unbekannten alten Schwestern untergebracht. Eines Nachts klopfte es an der Tür, Männer in Uniformen forderten uns auf, unsere Sachen zusammenzupacken und mitzugehen. Wir wurden in ein jüdisches Altersheim gebracht. Einige Wochen später, im Oktober 1944, sind wir nach Auschwitz deportiert worden. An die Befreiung am 27. Januar 1945 kann ich mich nicht erinnern. Ich soll sehr, sehr krank gewesen sein. Erst nachdem ich vom Roten Kreuz aufgepäppelt worden war, machte ich mich auf den Weg nach Budapest.

Lange Zeit habe ich vieles verdrängt. Auf der Reise zur Gedenkstätte in Auschwitz kam dann alles hoch, ich musste mich meinen Erinnerungen aussetzen. Ich begann, sie aufzuschreiben. Das war nicht einfach. Es hat etliche Jahre gedauert, bis meine Aufzeichnungen als Buch erscheinen konnten. Es heißt Ein Mädchen allein auf der Flucht. Das war eine Befreiung, eine Form der Therapie. Mein Mann hat es leider nicht mehr mitbekommen, er starb 1993. Das bedauere ich sehr.

ungarn-aufstand Andor und ich lernten uns in Budapest kennen und heirateten 1951. Ich war 19 Jahre alt, er zehn Jahre älter. Eigentlich war er Kürschner, wurde aber 1954 als Mitarbeiter der ungarischen Handelsvertretung nach Frankfurt entsandt. Ich folgte ihm ein paar Monate später mit unserer Tochter Judith. Nach dem Ungarn-Aufstand beschlossen wir, hier zu bleiben. Das war eigentlich nicht so vorgesehen.

Ein normales Leben zu führen – das versuchte ich früher und versuche es weiterhin. Ich bin ein sehr familiärer Mensch. Wichtig ist mir, dass meine Kinder und meine Enkel glücklich sind. Zwei meiner Enkel leben in Belgien, ich sehe sie leider nicht so oft. Die beiden anderen Enkel aber schon. Sie wohnen nicht weit von mir. Früher habe ich jeden Mittag für sie gekocht.

Jetzt koche ich zwar auch noch, aber nicht mehr so oft. Wenn ich koche, dann Ungarisches. Mit meinen Töchtern spreche ich übrigens Ungarisch, meine Enkelkinder haben es auch gelernt. Mit meiner Tochter Judith – wir wohnen zusammen – gehe ich einkaufen. Sie nimmt mir vieles ab. Manchmal gehen wir in die Stadt, auch mal spazieren, an Wochenenden machen wir Ausflüge. Früher habe ich mich mehr bewegt, auch Gymnastik gemacht, das sollte ich wieder anfangen, aber es strengt mich an.

Wenn ich zu Hause bin, höre ich gern Musik. Meist etwas Fröhliches wie ungarische Operetten. Etliche Zeit verbringe ich auch mit Telefonaten, ich spreche mit Freundinnen und Bekannten. Und ab und an bekomme ich Besuch. Meist bin ich aber mit meiner Familie zusammen. Wenn sie irgendwo hingehen, Ausflüge machen, dann nehmen sie mich mit. Ich kann mich nicht beschweren. Meine Töchter kümmern sich sehr um mich.

Aufgezeichnet von Canan Topçu

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