Lesen

Mord an einem It-Girl

Eigentlich wollte Eva Züchner einen Kriminalroman schreiben. Eine Geschichte, die in den 30er-Jahren spielen sollte, und eine mit »Berlin-Touch«. Den passenden historischen Fall hatte sie für ihr Vorhaben auch schon entdeckt. Der spektakuläre Mord an Tilly Albrecht hielt schließlich im Jahr 1938 fast ganz Berlin in Atem. Jene Tilly Albrecht, ein bekanntes Mannequin, ein It-Girl, schillernd, stilsicheres Auftreten, in feinster Kleidung gewandet, mit einer Wohnung am mondänen Kurfürstendamm versorgt und mit zahlreichen Liebhabern ausgestattet.

Es sind Autohändler, Gigolos, Fabrikanten, Adlige, kleine Angestellte. Einer aus dieser Reihe wird Tilly Albrecht am 16. November erst bestehlen, dann ermorden und schließlich die Wohnung in Brand setzen, um die Spuren auszulöschen. Und aus diesem Stoff, so dachte Eva Züchner jedenfalls am Anfang ihrer Recherche, ließe sich mit Sicherheit ein ausgezeichneter Krimi schreiben.

Damenkonfektion Die Akte im Mordfall Tilly A. ist doch dick genug und gibt jede Menge her. Die Kommissare verhörten nicht weniger als 30 Zeugen. Auch gegen Walter Caro wurde übrigens ermittelt. Der jüdische Kaufmann, stellvertretender Geschäftsführer einer Fabrikations- und Exportfirma für Damenkonfektion. Caro hatte ebenfalls ein Verhältnis mit Tilly Albrecht.

Dass das zwar schon ein paar Jahre her war, interessiert im Jahr 1938 die Ermittler indes nur wenig. Wer Jude ist, steht in dieser Zeit grundsätzlich unter Generalverdacht und wird erst einmal verhaftet, festgehalten und streng verhört. Damit beginnt die Tragödie von Walter Caro und seiner Familie.

Für die Schriftstellerin Eva Züchner stellt sich bei all den Recherchen von Zeugen, dem Opfer, den Verdächtigen und Ermittlern der Berliner Kripo langsam die Frage, was sie denn eigentlich noch schreiben will und kann. Denn je länger sie recherchiert, umso mehr nimmt sie Abschied von ihrer ursprünglichen Idee des Kriminalromans, also von der Geschichte vom Leben und Sterben der Tilly Albrecht.

Tapferkeit Ihr Interesse verschiebt sich stetig in Richtung des Schicksals von Walter Caro. Die Neugier auf diesen Mann und sein Leben überwältigt sie. Ein ziemlich verzwicktes Puzzle tut sich da auf, dazu jede Menge Sackgassen, Bewegendes und Beklemmendes, Trauriges, ein paar Hoffnungsschimmer zwischendurch, Zwangsarbeit, Untergrund, Tapferkeit, Verrat und am Ende im Jahr 1944 die Deportation und der Tod von Walter Caro im Vernichtungslager Auschwitz.

Eva Züchner hat sich dann – nach einem Jahr Recherche – entschieden. Sie erzählt in dem schön gestalteten Buch Der verbrannte Koffer eine jüdische Familiengeschichte aus Berlin. Das ist kein Krimi mehr. Es ist ein »beinhartes« Sachbuch, ein ausgezeichnetes Dokumentationsbuch über jene Zeit geworden, in der Juden in Deutschland nicht mehr als Menschen behandelt werden.

Ethik Die Rekonstruktion des konkreten Lebens, den Menschen Gesichter und Biografien zu geben, ist ein mittlerweile bewährtes und kaum noch umstrittenes Mittel der musealen Erinnerungskultur. Eva Züchner gelingt das literarisch, »ohne darüber die moralische Sauce drüberzukippen«, wie sie der Jüdischen Allgemeinen sagt. Sie trennt in ihrem Buch genau zwischen harter Faktenlage und Vermutungen, vermeidet bewusst die ethische Ebene und folgerichtig Adjektive wie grauenhaft, entsetzlich oder furchtbar. »Das verschleiert doch den ›wahren‹ Blick auf die Ereignisse«, meint Züchner.

Die Umstände, die Walter Caros Leben und das seiner verzweigten Familie zur Hölle machen, sind bekannt. Die Nürnberger Rassengesetze aus dem Jahr 1935 zum »Schutz des Deutschen Blutes« zum Beispiel stellen sexuelle Beziehungen von Juden zu »Ariern« unter Strafe. Es gibt Dezernate für »Rassenschande«, und wenn der ermittelnde Kriminalkommissar Werner Togotzes Walter Caro schon nicht wegen Mordes an Tilly Albrecht fasst, dann sicher wegen dieses Tatbestandes.

Walter Caro und seine ganze Familie geraten fortan ins unerbittliche Visier der Gestapo und werden später in Auschwitz vergast. Werner Togotzes wird 1943 zum Leiter der Mordkommission Berlin aufsteigen und 1954 dann noch einmal dazu ernannt, diesmal im damaligen West-Berlin.

Eva Züchner: »Der verbrannte Koffer. Eine jüdische Familie in Berlin«. Berlin Verlag 2012, 176 S., 18,90 €

Berlin

Zentralrat der Juden begeht sein 75. Jubiläum

Die Dachorganisation der jüdischen Gemeinden lud zahlreiche Gäste aus Politik und Zivilgesellschaft nach Berlin. Der Bundeskanzler hielt die Festrede

von Imanuel Marcus  17.09.2025

Meinung

Die Tränen des Kanzlers

Bei seiner Rede in München gab Friedrich Merz ein hochemotionales Bekenntnis zur Sicherheit jüdischen Lebens ab. Doch zum »Nie wieder dürfen Juden Opfer werden!« gehört auch, den jüdischen Staat nicht im Stich zu lassen

von Philipp Peyman Engel  17.09.2025

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Auszeichnung

Düsseldorfer Antisemitismusbeauftragter erhält Neuberger-Medaille

Seit vielen Jahren setze sich Wolfgang Rolshoven mit großer Entschlossenheit gegen Antisemitismus und für die Stärkung jüdischen Lebens in Düsseldorf ein, hieß es

 16.09.2025

Erinnerung

Eisenach verlegt weitere Stolpersteine

Der Initiator des Kunst- und Gedenkprojekts, Gunter Demnig aus Köln, die Stolpersteine selbst verlegen

 16.09.2025

Porträt der Woche

Passion für Pelze

Anita Schwarz ist Kürschnerin und verdrängte lange das Schicksal ihrer Mutter

von Alicia Rust  16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  17.09.2025 Aktualisiert

Sachsen-Anhalt

Erstes Konzert in Magdeburger Synagoge

Die Synagoge war im Dezember 2023 eröffnet worden

 15.09.2025

Thüringen

Jüdisches Bildungsprojekt »Tacheles mit Simson« geht erneut auf Tour

Ziel des Projektes sei es, dem Aufkommen von Antisemitismus durch Bildung vorzubeugen, sagte Projektleiter Johannes Gräser

 15.09.2025