Spracherwerb

Mit Aaron reden

Aaron hat feuerrote Haare und trägt eine weiße Kippa. Er ist 70 Zentimeter groß und hat ein Gesicht aus Baumwolle. Er wirft Alexander einen kleinen Ball zu und fragt: »Was gibt es Neues?« Alexander fängt den Ball auf und antwortet: »Kein Neues.« Die Puppe verbessert ihn: »Nichts Neues« und hakt nach: »Was ist denn los?« »Ich bin müde«, antwortet Alexander.

Der Dialog ist kurz, aber dennoch ein großer Erfolg für Keren Kotlyarevskaya, die die Puppe Aaron spielt. Denn Alexander ist einer von acht Menschen mit Behinderung, die heute im Rahmen des Empowerment-Projekts der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) für Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund in die Jüdische Gemeinde Recklinghausen gekommen sind, um Deutsch zu lernen, zu spielen und ihre Freunde zu treffen. Das Projekt besteht seit 2013. Es will Menschen mit Behinderung darin unterstützen, selbstständiger leben zu können.

Kompetenzen
Ihre Machtlosigkeit (Powerlessness) soll in Selbstbestimmung (Empowerment) umgewandelt werden. Dafür ist besonders das Erlernen der deutschen Sprache wichtig. Aber auch die sozialen Kompetenzen der Behinderten sollen gefördert werden, um ihre Isolation und Abhängigkeit zu verringern.

Einige der zwischen 30 und 50 Jahre alten Teilnehmer kommen wie Alexander aus Recklinghausen. Andere reisen aus Gelsenkirchen oder Mönchengladbach an. Ihre Eltern sind immer dabei. Jeden zweiten Sonntag ist Kotlyarevskaya in der Recklinghauser Gemeinde, an anderen Tagen unterrichtet sie Gruppen in den Gemeinden Düsseldorf, Köln und Dortmund.

Ein Weg, mit dem die Theaterpädagogin und Sprachwissenschaftlerin den Menschen mit Behinderung hilft, unabhängiger zu werden, sind Rollenspiele, in denen Alltagssituationen nachempfunden werden. »Wir gehen etwa zum Arzt oder einkaufen«, beschreibt Kotlyarevskaya ihr Vorgehen. Wichtig sei da neben der deutschen Sprache vor allem Selbstbewusstsein, um eigenständig zu handeln.

An diesem Tag bespricht Kotlyarevskaya mit den Teilnehmern ihre Morgenroutine: »Wir wachen morgens auf und liegen noch im Bett. Irgendwann stehen wir auf. Und was machen wir dann?«, fragt sie in die Runde. »Zähneputzen«, erwidert Alexander. Ein anderer ruft: »Toilette«. »Sie haben heute gut mitgemacht«, sagt die Projektleiterin nach dem Unterricht.

Methode Das sei nicht immer so, sie müsse flexibel sein: »Natürlich gibt es einen Unterrichtsplan: Ziel, Methode, Zeit. Doch die Menschen haben verschiedene Behinderungen – geistig, körperlich und psychisch –, und auch ihre Sprachkenntnisse sind auf sehr unterschiedlichem Niveau.« Viele freuen sich einfach nur, dabei zu sein, im Kreis zu sitzen und mit der Puppe zu sprechen, meint die 38-Jährige. »Da ist es dann schon ein Erfolg, dass sie mir überhaupt antworten, wenn auch auf Russisch.«

Den Unterricht erschweren aus ihrer Sicht jedoch weniger die Handicaps der Teilnehmer, als vielmehr die Einstellungen der Eltern – die häufig durch die Erfahrungen in der ehemaligen Sowjetunion geprägt wurden. »Die Eltern wollen dabei sein, aber eigentlich stören sie«, beschreibt Kotlyarevskaya die Schwierigkeit. Viele von ihnen, glaubt sie, würden sich einen »richtigen« Sprachkurs wünschen.

Doch das Konzept der ZWST setzt auf Empowerment mit theaterpädagogischen Elementen – und dazu gehören eben die Puppe Aaron, Bilderkarten und viele Spiele. Ein weiteres Thema sei, dass die Eltern häufig die Selbstbestimmungskräfte und Fähigkeiten ihrer Kinder unterschätzen würden. »Einmal habe ich ein Mädchen gefragt, an welchem Tag von Chanukka wir fünf Kerzen anzünden. Da hat eine der Mütter mich unterbrochen und gesagt: ›Ach, das weiß sie doch nicht.‹« Kotlyarevskaya vermutet, dass die Eltern ihren Kindern aufgrund eigener Ängste häufig keine Chance zur Selbstbestimmung geben. »Viele haben große Angst davor, was mit ihren Kindern geschieht, wenn sie sterben«, meint sie.

Zukunft So wie bei Margarita Makarova. Die 67-Jährige wohnt gemeinsam mit ihrem Sohn Gleb, 41, in Gelsenkirchen. Wenn man Margarita Makarova nach der Zukunft ihres Sohnes fragt, sagt sie betrübt: »Zukunft bereitet uns Herzschmerz.« Sollte ihr Sohn irgendwann einmal tatsächlich ausziehen, sei ihr besonders wichtig, dass er in einer jüdischen Umgebung leben wird.

Seitdem die Familie vor zehn Jahren aus Weißrussland nach Deutschland zugewandert ist, fehlen ihr soziale Kontakte. Die Treffen in der Gruppe helfen, diese Isolation zu durchbrechen. Deshalb kommen die Makarovas seit rund einem Jahr nicht nur zu den Treffen in Düsseldorf, sondern auch nach Recklinghausen. »Wir würden es aber gerne noch öfter haben«, erzählt die Mutter. »Mein Sohn besucht die Gruppe gerne, es macht ihn sehr froh!« Obwohl ihr Sohn durch den Unterricht sichtbar selbstständiger geworden ist, glaubt Makarova, dass er »für immer ein Kind« bleiben wird.

Themen Keren Kotlyarevskaya sieht das anders. Die Männer und Frauen in ihren Kursen vertrauen ihr. Und viele von ihnen möchten über Dinge wie Liebe, Heirat und Partnerschaft sprechen. »Das ist für die meisten ihrer Eltern ein absolutes Tabu. Mich freut es aber, dass sie sich mir gegenüber so öffnen. Über Sexualität haben wir allerdings noch nicht gesprochen, obwohl ich finde, dass das auch sehr wichtig wäre.«

Der Umgang mit den Eltern und mit ihren behinderten Kindern ist ein ständiger Balanceakt. Oft unterscheiden sich die Selbsteinschätzungen der Teilnehmer, die Sicht ihrer Eltern und die unabhängige und professionelle Beurteilung Dritter – wie etwa von Keren Kotlyarevskaya – sehr voneinander. So sind es häufig verschiedene Faktoren, die den Teilnehmern den Weg in die Selbstständigkeit erschweren: ihre Behinderung, die Ängste der Eltern und auch fehlendes Selbstvertrauen.

Besonders stolz ist Kotlyarevskaya deshalb auf einen jungen Mann, der sich vor Kurzem an sie gewandt hat, weil er gerne anfangen möchte zu arbeiten. »Allein der Wunsch ist schon ein großer Schritt in Richtung Selbstständigkeit.«

Was sein wird, wenn das Projekt im Sommer dieses Jahres ausläuft, weiß Kotlyarevskaya noch nicht. Sie ist sich aber sicher, dass weitere Projekte – wie etwa Treffen zur Zukunftsplanung für Menschen mit Behinderung – enorm wichtig sind.

Bei der letzten Übung des Tages fragt Kotlyarevskaya die Teilnehmer reihum, was sie der Gemeinde Recklinghausen wünschen. Gleb sagt, er wünscht sich, dass seine Freundin aus Weißrussland nach Deutschland kommt. Schnell weisen ihn die anderen darauf hin, dass es nicht um ihn, sondern um Wünsche für die Gemeinde geht. Gleb überlegt kurz und sagt dann: »Liebe und Frieden.«

Interview

Holocaust-Überlebender Weintraub wird 100: »Ich habe etwas bewirkt«

Am 1. Januar wird Leon Weintraub 100 Jahre alt. Er ist einer der letzten Überlebenden des Holocaust. Nun warnt er vor Rechtsextremismus und der AfD sowie den Folgen KI-generierter Fotos aus Konzentrationslagern

von Norbert Demuth  16.12.2025

Magdeburg

Neuer Staatsvertrag für jüdische Gemeinden in Sachsen-Anhalt

Das jüdische Leben in Sachsen-Anhalt soll bewahrt und gefördert werden. Dazu haben das Land und die jüdischen Gemeinden den Staatsvertrag von 2006 neu gefasst

 16.12.2025

Bundestag

Ramelow: Anschlag in Sydney war Mord »an uns allen«

Erstmals gab es in diesem Jahr eine Chanukka-Feier im Bundestag. Sie stand unter dem Eindruck des Anschlags auf eine Feier zum gleichen Anlass am Sonntag in Sydney

 16.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns wollen?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025

Berlin

Chanukka-Licht am Brandenburger Tor entzündet

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin das erste Licht am Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet. Der Bundespräsident war dabei

 15.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  15.12.2025

Berlin

Straße nach erster Rabbinerin der Welt benannt

Kreuzberg ehrt Regina Jonas

 12.12.2025

Berlin

Jüdisches Museum bekommt zusätzliche Förderung

Das Jüdische Museum in Berlin gehört zu den Publikumsmagneten. Im kommenden Jahr feiert es sein 25. Jubiläum und bekommt dafür zusätzliche Mittel vom Bund

 12.12.2025

Chanukkia

Kleine Leuchter, große Wirkung

Von der Skizze bis zur Versteigerung – die Gemeinde Kahal Adass Jisroel und die Kunstschule Berlin stellen eine gemeinnützige Aktion auf die Beine. Ein Werkstattbesuch

von Christine Schmitt  12.12.2025