Ende Februar war Hanna Veiler vom Aktivismus erschöpft. In ihre Zeit als Vorstandsmitglied und später Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) fiel zunächst die Corona-Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine und schließlich der Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 mit dem anschließenden weltweiten Anstieg des Antisemitismus. Für Veiler bedeutete das einen jahrelangen Ausnahmezustand.
Sie habe ihre Grenzen kontinuierlich überschritten, sagte sie damals in einem Interview mit dieser Zeitung. »Für die JSUD ist die Zeit für neue Ideen und einen Generationenwechsel gekommen und für mich, etwas anderes zu machen.« Daher, so Veiler, werde sie nicht erneut für den JSUD-Vorstand kandidieren, wolle erst einmal Urlaub machen, sich erholen. Doch auf die Frage, ob sie dem jüdischen Aktivismus erhalten bleibe, antwortete sie: »Auf jeden Fall.«
Ein knappes halbes Jahr später hat Veiler neue Energie getankt, und nun ist auch klar, wohin es sie zieht: nach Brüssel. In der belgischen Hauptstadt ist der Sitz der European Union of Jewish Students (EUJS), der Dachorganisation von jüdischen Studierendenverbänden in 36 europäischen Ländern – und Hanna Veiler will deren Präsidentin werden.
Die EUJS-Vollversammlung findet dieses Jahr in Bulgarien statt
Am 15. August wird der EUJS-Vorstand für zwei Jahre neu gewählt. Der Stimmenanteil der nationalen Verbände wird nach der Größe der jüdischen Gemeinschaft des jeweiligen Landes festgelegt. Mit Frankreich und Großbritannien zählt Deutschland damit zu den gewichtigeren EUJS-Mitgliedern. Wie es mittlerweile Tradition ist, wird auf der Vollversammlung im Rahmen der »Summer University«, kurz: »Summer U«, gewählt, einer unter jungen jüdischen Aktivisten legendären Ferienwoche mit Veranstaltungen, Workshops, Sport, Kunst und jeder Menge Partys. Dieses Jahr findet die Summer U in Bulgarien statt.
Die bisherige EUJS-Präsidentin Emma Hallali aus Frankreich tritt nicht erneut an. Hanna Veiler ist die einzige Kandidatin für das Amt. Sie kennt den europäischen Dachverband gut, da sie schon zuvor im Vorstand saß. Auch der wird neu besetzt. Für die sechs weiteren Vorstandsposten kandidieren neun jüdische Studierende aus ganz Europa. Auch hier tritt eine Deutsche an: Alexandra Krioukov, die aktuell Vizepräsidentin der JSUD ist.
»Tiefe Wurzeln, kühne Zukunft« lautet Hanna Veilers Motto für die Kandidatur um die Präsidentschaft.
»Viel von dem, was uns in Deutschland betrifft, wird auf europäischer Ebene entschieden«, sagt Krioukov im Gespräch mit der »Jüdischen Allgemeinen«. Sie wolle kandidieren, weil die EUJS eine Menge für junge Juden in Europa erreichen kann. »Ohnehin sehen sich viele von uns in erster Linie als europäische Jüdinnen und Juden, gerade in Deutschland, wo wir so unterschiedliche Hintergründe haben.«
Krioukov studiert Jura in Berlin, ist seit zwei Jahren im JSUD-Vorstand und war zuvor schon in jüdischen Kontexten aktiv. Gute Voraussetzungen, um am 15. August die anderen Verbände von sich zu überzeugen. Krioukov reist mit einem ausführlichen Programm nach Bulgarien: »Ich möchte dazu beitragen, unsere Stimme zu formen, sie zu verstärken, sie zu schärfen«, heißt es darin. Das will die 23-Jährige unter anderem mit mehr Kreativität erreichen. Die EUJS solle verstärkt mit Künstlern zusammenarbeiten, um Kampagnen zu entwickeln, »die nicht nur reagieren, sondern inspirieren, die nicht nur verteidigen, sondern stolz präsentieren, wer wir sind«.
Die bessere Vernetzung der nationalen Studierendenverbände untereinander ist ein weiteres wichtiges Anliegen von Krioukov. »Große und kleine Verbände, politisch aktivere und weniger aktive sollten die Möglichkeit haben, die gelebte Realität und die Stärken der jeweils anderen zu erfahren«, schreibt sie in ihrem Programm. Das solle »echte Solidarität im jungen jüdischen Europa fördern«.
Ihr Wahlprogramm hat Veiler als Speisekarte formuliert
Läuft es für die beiden Kandidatinnen aus Deutschland nach Plan, wird Krioukov künftig auch auf europäischer Ebene mit Hanna Veiler zusammenarbeiten, nachdem die beiden sich bereits aus ihrer gemeinsamen JSUD-Zeit gut kennen.
Veilers Motto für ihre Kandidatur: »Deep roots. Bold future« – »tiefe Wurzeln, kühne Zukunft«. Sie wolle Präsidentin der EUJS werden, weil sie jedem einzelnen Juden glaube, »der sich fragt, ob seine Stimme zählt, ob seine Geschichte gehört wird und ob er dazugehört«. Gemeinsam werde man die EUJS »lauter, stärker und stolzer als je zuvor« machen, schreibt Veiler. »Zünden wir das Feuer an, damit es in ganz Europa zu sehen ist.«
Alexandra Krioukov will mehr künstlerische Kreativität in die Arbeit der EUJS bringen.
Ihr Wahlprogramm hat Veiler als Speisekarte formuliert. Eine kleine Auswahl aus dem Menü: Der »Borscht of Resilience« soll den nationalen Verbänden juristische Mittel an die Hand geben, um besser gegen Antisemitismus vorgehen zu können. Das »Activist Schnitzel« steht für mutige EUJS-Kampagnen nach dem Motto »Lasst uns die Straße zurückholen!«. Mit der »Loud Lasagna« geht eine stärkere Social-Media-Präsenz mit kreativen Formaten einher, und der »Anti-Meltdown Moussaka« soll mit professioneller psychologischer Unterstützung in Zeiten der Krise helfen.
Der Jüdischen Allgemeinen sagte Veiler, dass junge Jüdinnen und Juden in Europa in einer Situation waren, »in der sie mit dem Rücken zur Wand standen, sich ständig verteidigen mussten und immer wieder reagieren«. Verteidigen müssten sie sich auch weiterhin. »Aber es ist auch an der Zeit, unser eigenes Narrativ zurückzugewinnen und unsere eigenen Schwerpunkte setzen zu können.« Als Präsidentin wolle sie »noch mehr junge Jüdinnen und Juden empowern, ihre eigenen Geschichten und Perspektiven über die Plattform der EUJS selbstbestimmt in die Öffentlichkeit tragen zu können«.
Die 27-Jährige will einen Fokus auf die kleineren nationalen Verbände sowie die Region Osteuropa legen. »Ich möchte diese stärken, neue Ressourcen bereitstellen und ein Eastern Europe Network im Rahmen von EUJS ins Leben rufen.« Damit die Geschichte des jüdischen Aktivismus in Europa bekannter wird, will sie mit Material des EUJS-Archivs eine Wanderausstellung gestalten, die in europäischen Hauptstädten ausgestellt wird. »Damit zeigen wir: Junge Jüdinnen und Juden waren noch nie passiv, sondern seit Jahrzehnten mittendrin dabei, europäische Gesellschaften zu prägen und mitzugestalten.«
Nun will Veiler selbst das nächste Kapitel dieser Geschichte aufschlagen. Sie freue sich sehr, »in einem internationalen Kontext arbeiten zu können und so auch meinen eigenen Horizont zu weiten«. Dafür werde sie bald auch nach Brüssel ziehen – ins Herz von Europa.