Porträt der Woche

»Ich sehe zuerst auf die Füße«

»Ich mag Dinge, die sich nicht verändern«: Chaja Loulai (52) lebt in München. Foto: Christian Rudnik

Porträt der Woche

»Ich sehe zuerst auf die Füße«

Chaja Loulai ist Kosmetikerin und seit 30 Jahren aktiv bei der Chewra Kadischa

von Katrin Diehl  13.03.2017 18:42 Uhr

Chaja, das ist mein jüdischer Vorname. So nennt mich jeder, auch wenn ich laut Pass eigentlich Clara Deborah heiße. Clara Deborah! Schon als Kind fand ich diesen Namen einfach nur grauenvoll. Aber meine Mutter wollte in so einem offiziellen Papier nicht Chaja stehen haben. Das war ihr irgendwie zu eindeutig. Überhaupt hatte sie den festen Plan – »wenn mal wieder irgendetwas passieren sollte« –, mit uns zurück nach Brasilien zu gehen, das Land, aus dem sie kommt. In Brasilien wird aus Chaja übrigens »Shasha«. Auch hübsch.

Mein Vater, sel. A., kam aus Krasnik. Das ist ein polnisches Städtchen bei Lublin. Er war Holocaust-Überlebender, hatte sämtliche KZs erlitten und ist dann nach 1945 in München gelandet. Von seinen beiden verheirateten Schwestern haben nur deren Ehemänner überlebt. Sie haben sich nach dem Krieg nach Rio de Janeiro aufgemacht. Und weil mein Vater seine Schwäger wiedertreffen wollte, ist er eben auch dorthin gereist. Dabei hat er dann meine Mutter kennengelernt, deren Eltern wiederum 1936 und 1939 aus Polen nach Brasilien gekommen waren. Mein Vater hat meine Mutter kurzerhand mit nach München genommen, die Stadt, in der ich 1964 geboren wurde.

Ja, man kann sagen, dass ich ein echtes Münchner Kindl bin, wobei ich mich besonders dem Münchner Stadtteil Schwabing zugehörig fühle. Hier bin ich mit meinem Bruder aufgewachsen, in den Kindergarten und in die Schule gegangen, und jetzt, seit einigen Jahren, ist es auch wieder das Viertel, in dem ich arbeite.

kinder Nach meinem Schulabschluss ist alles recht schnell gegangen – aus einer Berufsausbildung wurde erst einmal nichts. Ich habe meinen ersten Mann kennengelernt, zwei Kinder bekommen und war mit Leidenschaft Hausfrau und Mama. Heute bin ich seit 13 Jahren zum zweiten Mal verheiratet. Meinen zweiten Mann, Dario, habe ich am Strand von Israel kennengelernt, und zu Jil (32) und Jerome (31) kam noch Yoel dazu, der heute zwölf Jahre alt ist, kräftigt pubertiert, ganz schwierig, ganz lieb und beides gleichzeitig sein kann.

Und ja, seit April vergangenen Jahres bin ich auch noch Oma, habe einen kleinen Enkel namens Joshua. Mein Sohn und meine wunderbare Schwiegertochter Debby sind von Frankfurt nach München gezogen, was für mich natürlich perfekt ist.

Oma zu sein, ist wirklich das Wunderschönste auf der Welt. Ich könnte ein Buch darüber schreiben. Mein Vater hat immer über meine Kinder gesagt: »Sie sind die Zinsen meines Vermögens.« Ich hatte das damals nie so richtig verstanden. Aber jetzt, wo es Joshua gibt, weiß ich, was er meinte. Wenn Joshua bei mir ist, habe ich unendlich viel Zeit für ihn, und dass ich daneben selbst noch einen Heranwachsenden habe, macht die Sache nur noch interessanter.

Enkel Yoel ist übrigens auch ganz begeistert von dem Kleinen, und ich habe so richtig weinen müssen, als er im Krankenhaus mit dem frisch geborenen Joshua ganz selbstvergessenen ein Zwiegespräch begonnen hat. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ein Junge in diesem Alter zu so etwas fähig ist.

Er hat ihn gehalten und gesagt: »Weißt du, ich habe dich schon geliebt, bevor ich dich überhaupt gekannt habe.« Und er hat ihm erzählt, was er noch alles mit ihm vorhat: in die Allianz Arena zu gehen zum Beispiel. Jetzt ruft er manchmal seinen Bruder an und lässt ihn wissen, dass er Sehnsucht nach seinem Neffen hat. Außer Wickeln macht er alles für ihn. Wickeln geht nicht, da wird ihm schlecht.

Freitags ist mein Sohn mit Familie dann entweder bei uns oder bei meinem Ex-Mann. Wir teilen uns das auf, und wir machen es uns schön. Ja, ich kann es ohne Umschweife sagen: Ich wünsche mir noch viele solcher Enkelkinder.

beruf Vor Kurzem saß ich mit meiner Mutter am Tisch. Sie sah mich an und sagte: »Weißt du was? So wie du ausschaust, wenn du mit dem Joshua unterwegs bist, könnten die Leute dich durchaus auch für seine Mutter halten.« Da habe ich wahrscheinlich ein bisschen ungläubig geguckt. Andererseits fühle ich mich jetzt tatsächlich gerade in einem Alter, in dem alles irgendwie passt.

Ich habe ja schon immer die klassische Art geliebt, was Kleidung anbelangt oder wie man sich richtet. Und als ich noch ein junges Mädchen war, hat das sicher ein wenig tantig gewirkt. Die Mutter einer besten Freundin von mir hat damals mal zu mir gesagt: »Macht doch nichts, du wirst in dein gefühltes Alter hineinwachsen.« Und sie hatte absolut recht. Heute bin ich in meinem Alter angekommen. Überhaupt habe ich von dieser Frau einiges lernen können. Sie war Kosmetikerin in einem DP-Lager, und von den Tipps, die sie mir damals anvertraut hat, profitiere ich bis heute.

Richtig in den Beruf der Kosmetikerin einzusteigen, dazu hatte ich Gelegenheit nach meiner Scheidung. Vor 22 Jahren habe ich eine Ausbildung zur medizinischen Kosmetikerin und medizinischen Fußpflegerin gemacht, wobei meine absolute Leidenschaft den Füßen gilt. Den Füßen und den Krankheiten. Also, das liebe ich: Leute mit Schuppenflechte, Akne, verkrüppelten Füßen.

Ich brauche die Herausforderung. Meine Freundin hat vor Kurzem zu mir gesagt: »Also, es ist entsetzlich mit dir, du schaust keinem ins Gesicht. Du schaust ständig nach unten auf die Füße.«
Da ist etwas dran. Im Sommer stehe ich an der Rolltreppe und sehe mir kopfschüttelnd die Füße der Damen an: So elegante Schuhe und so kaputte Fersen. Dabei tut ein wenig Salbe Wunder!

heimat Einmal hatte ich – das werde ich nie vergessen, auch wenn es jetzt schon lange her ist – hinter dem Vorhang im Kosmetiksalon eine ältere Dame sitzen. Ihre Füße steckten gerade in einem Fußbad. Da fragt sie so recht bayerisch durch den Vorhang: »Na, wo geht’s denn heuer in den Urlaub hin?« Daraufhin habe ich geantwortet: »Nach Israel.« Und dann sagt die doch: »Nach Israel? Aber sie sind scho a Arierin, oder?«

Da bin ich so ausgeflippt, das kann sich keiner vorstellen. Ich habe den Vorhang heruntergerissen, habe sie angeschrien und ihr Hausverbot erteilt. Dieses Erlebnis sitzt noch irgendwo. Trotzdem hatte ich bis vor Kurzem eigentlich immer Deutschland, insbesondere München, als mein Zuhause, meine Heimat begriffen. Erst in letzter Zeit verändert sich da etwas in mir.

Die Stimmung, die in Deutschland herrscht, Stimmen, die in der Politik laut werden – das ist schon sehr bedenklich, und es kommt vor, dass ich nachts wach in meinem Bett liege und mich frage: »Möchte ich wirklich in diesem Land bleiben?« Es gibt ja die Alternative Israel, das Land, aus dem mich keiner hinauswerfen und in dem ich mein jüdisches Herz sprechen lassen kann.

Aber ganz egal, wo ich lebe: Meine Familie ist mir das Wichtigste. Ich mag es eng. Ich mag Dinge, die sich nicht verändern. Ich mag es, wenn das Haus vor Gästen platzt. Ich mag die jüdischen Feiertage, auch wenn »koscher le Pessach« in München wirklich stressig ist. Ich feiere das bei aller Anstrengung am liebsten bei mir. Denn unter meinen Freundinnen gäbe es nur eine, bei der ich mit allem einverstanden wäre.

sorgfalt Zurück im Alltag versuche ich, es immer so einzuteilen, dass ich von der Arbeit zu Hause bin, wenn Yoel am Nachmittag von der Schule kommt. Ich koche etwas, wir reden, und weil ich das wertvoll finde, mache ich neben meinem Job auch nicht viel anderes.

Außer einer Tätigkeit – und die ist mir wirklich wichtig: Ich bin seit nunmehr 30 Jahren in der Chewra Kadischa aktiv und beteilige mich an der rituellen Leichenwäsche. Ich mache das entweder vor der Arbeit ganz früh oder irgendwann sehr spät am Abend – voller Sorgfalt und Respekt, aber mit nicht zu vielen Gedanken in meinem Kopf. Und natürlich bin ich froh, wenn der tote Mensch niemand ist, den ich persönlich gekannt habe.

Dieses Amt übernommen habe ich erstens, weil das mein Vater auch sehr lange gemacht hat, und zweitens, weil ich, als mein Schwiegervater starb, mitbekommen habe, dass da ganz nötig Leute gebraucht werden. Ich mache das einfach, und es hat etwas Gutes, dass die, die dir für diese Arbeit gerne danken würden, nicht mehr sprechen können. Diese Arbeit verlangt nach keinem Dank.

Aufgezeichnet von Katrin Diehl

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