Porträt der Woche

»Ich möchte Brücken bauen«

»Es war die beste Entscheidung meines Lebens, für ein halbes Jahr nach Israel zu gehen«: Iris Lea Bialowons (22) aus München

Porträt der Woche

»Ich möchte Brücken bauen«

Iris Lea Bialowons ist Madricha, studiert Psychologie und arbeitet an einer Schule

von Matthias Messmer  01.06.2025 11:41 Uhr

Über Israels zweiten Platz beim Eurovision Song Contest kann man sich nicht beschweren, doch der Sieg von Österreich war zweifellos verdient. In diesem Jahr werde ich als Madricha an der Jewrovision in Dortmund teilnehmen, dem größten Gesangs- und Tanzwettbewerb jüdischer Jugendzentren in Deutschland. Schon letztes Jahr war ich dabei, ich bin extra aus Israel für nur drei Tage angereist. Trotz der kurzen Zeit war es für mich sehr wichtig, an diesem besonderen Ereignis teilzunehmen.

Seit meiner Kindheit bin ich mit dem Jugendzentrum »Neschama« in München verbunden – dem Ort, an dem ich geboren wurde. Meine Mutter – sie stammt ursprünglich aus Kyjiw und wuchs in St. Petersburg auf – beschloss damals, dass ich ins Jugendzentrum gehe. Für diese Entscheidung bin ich ihr sehr dankbar, denn es war eine wunderbare Erfahrung, die mir bis heute viel bedeutet. Denn im Jugendzentrum habe ich meine besten Freunde kennengelernt und eine zweite Familie gefunden. Meine Schwester, mit der ich ein super gutes Verhältnis habe, sagt manchmal, sie wünschte, sie hätte diese Erfahrung auch machen können.

Es ist ein schönes Gefühl, in eine jüdische Gemeinschaft eingebettet zu sein – mit Gleichgesinnten, die verstehen, was man durchmacht, und die ähnliche Werte teilen. Man spürt, dass man denselben Konsens hat und sich nicht ständig über politische Themen unterhalten muss. Als Jugendliche nahm ich häufig an Machanot teil. Diese Erlebnisse waren von Leichtigkeit geprägt und schufen starke Verbindungen, sei es beim Singen, Tanzen oder einfach beim Zusammensein, auch wenn man nicht dieselbe Sprache spricht.

In diesem Jahr nehme ich als Betreuerin an der Jewrovision in Dortmund teil.

Irgendwann wuchs in mir der Wunsch, selbst Madricha zu werden, nachdem ich die Jugendleiter*in-Card (Juleica) erworben hatte. Die Arbeit mit Jugendlichen erfüllt mich sehr. Schon früh spürte ich den Wunsch, etwas von dem zurückzugeben, was ich selbst geschenkt bekommen habe. Ich erkannte, dass die Jahre vom Kindsein bis zur Pubertät mit Herausforderungen und schwierigen Lebenssituationen verbunden sind – unabhängig von Familie oder Herkunft. Es gibt immer Zeiten, in denen es wichtig ist, Hilfe anzunehmen oder zumindest danach zu fragen. Heute habe ich das Glück, dass ich meinen Teil zur Gesellschaft beitragen und anderen helfen kann.

Es gibt Momente im Leben, in denen alles zusammenzupassen scheint wie in einem Bild. Für mich ist dieses Bild das Studium der Erziehungswissenschaften und Psychologie in München. Schon früh wusste ich, dass ich nicht den wirtschaftlichen Pfad einschlagen würde. Stattdessen zog es mich immer in soziale Bereiche, in die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Nun, im zweiten Semester, arbeite ich weiterhin im Jugendzentrum und in einer Grundschule, wo ich Kindern mit Migrationshintergrund Nachhilfe in Deutsch gebe. Es ist eine bereichernde Erfahrung, die mir täglich zeigt, wie wichtig es ist, Brücken zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen zu bauen.

Nach dem Abi bin ich für ein halbes Jahr nach Israel gegangen. Es war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte. Das Aardvark-Programm bietet jüdischen Jugendlichen aus aller Welt die Möglichkeit, Israel nicht nur als Tourist zu erleben, sondern in die Geschichte, Kultur und Sprache einzutauchen. Ich habe in Tel Aviv vier Tage die Woche als Englisch-Assistenz an einer Grundschule gearbeitet und verschiedene Aktivitäten geleitet, darunter auch Veranstaltungen zum Jom Haschoa. Es war eine Zeit intensiven Lernens und persönlicher Entwicklung.

In Israel habe ich eine so erfüllende Zeit gehabt: Ich war unfassbar glücklich

Natürlich war die Entscheidung, nach Israel zu gehen, nicht leicht. Ich war zwar schon früher öfter im Urlaub dort, aber ich hatte bis dahin noch nie Sirenenalarm und Raketenangriffe erlebt. Deshalb hatte ich zu Beginn schon Angst und Bedenken.

Auch Eltern sehen ihr Kind nicht gern in einer solch unsicheren Umgebung. Gleichzeitig aber haben sich mein Vater und meine Mutter gewünscht, dass ich das machen kann. Und dann habe ich dort eine so erfüllende Zeit gehabt: Ich war unfassbar glücklich.

Meine nichtjüdische Umgebung am Gymnasium hatte anfangs mit Unverständnis auf meine Pläne fürs Auslandsjahr reagiert. Im Nachhinein konnten meine Freunde aber doch besser verstehen, dass ich mich trotz der Kriegssituation in Israel sicher fühlte, obwohl es objektiv gesehen nicht sicher war. Aber ich hatte dort trotzdem das Gefühl, irgendwie zu Hause zu sein, im Gegensatz zu München, wo ich mir in jenen Wochen, auch wegen der Medienberichterstattung über Israel und Gaza, verloren vorkam.

Seit damals gehen mir die Geiseln emotional sehr nahe. Zur ältesten Geisel Shlomo Mansour habe ich eine persönliche Bindung aufgebaut, obwohl ich diesen Menschen noch nie gesehen habe: Seine Geschichte – er hat 1941 das Massaker in seiner Geburtsstadt Bagdad überlebt –, seine Persönlichkeit und sein Charakter haben mich so berührt, dass es unglaublich schwer für mich war zu erfahren, dass er schon am 7. Oktober 2023 ermordet worden war. Shlomo galt als sehr lebensfroher Mann von großer Bescheidenheit und einer großen menschlichen Wärme. Später habe ich dann seine Nichte kennengelernt, aus Anlass einer Einladung von Familienangehörigen der Geiseln in einer Londoner Synagoge.

Das Einzige, was ich tun kann, ist, für die Geiseln zu beten

Aus diesen Erfahrungen habe ich gelernt, mich emotional abzugrenzen und zu akzeptieren, dass nicht alles im Leben in meiner Kontrolle liegt. Das Einzige, was ich tun kann, ist, für die Geiseln zu beten. Ich versuche, das Geschehene in Gottes Hand zu legen und zu glauben, dass alles einen größeren Sinn hat – auch wenn dieser für mich momentan nicht ersichtlich ist. Es ist ein Prozess des Loslassens und Vertrauens, der mich weiterhin begleitet.

Neben meinem Engagement in der Jugendarbeit widme ich mich auch Bildungsprojekten wie dem Programm »Meet a Jew«, das seit 2020 existiert. An Orten wie der Katholischen Hochschule oder einer Polizeiakademie treten wir mit interessierten Menschen in Dialog – über das Jüdischsein in Deutschland, die Schoa oder Antisemitismus.

Ich erzähle den Teilnehmern, dass man als Jüdin oder Jude nicht Vertreter der israelischen Regierung ist oder ultrareligiös sein muss. Solche Begegnungen sind in einer polarisierten Gesellschaft besonders wichtig. Gegen Antisemitismus und Vorurteile aufzuklären, ist in diesen Zeiten essenziell.

Man kann auch befreundet sein, ohne politisch gleicher Meinung zu sein

Meine Offenheit gegenüber unterschiedlichen Sichtweisen und Meinungen kommt mir dabei zugute. Natürlich ist auch meine Toleranz begrenzt. Seit meiner Zeit in Israel habe ich meine eigene Wahrheit gefunden – die Quelle dessen, was wirklich passiert und wo Dinge falsch laufen. Nicht nur auf der anderen, sondern auch auf unserer Seite. Mittlerweile fällt es mir leichter, mit Menschen zu sprechen oder mich aus Diskussionen herauszuhalten. Nicht jede Freundschaft ist dazu gemacht, sich tiefer zu verbinden. Man kann auch befreundet sein, ohne politisch gleicher Meinung zu sein. Wenn es jedoch zu verletzend wird, spreche ich es an – auch zu meinem Selbstschutz, damit nicht immer wieder dieselbe Wunde aufgerissen wird.

Aufgezeichnet von Matthias Messmer

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