Plädoyer

»Ich kann nicht anders«

Flüchtlinge kommen in Schönefeld an. Foto: imago

Als Anfang 2015 im Osten Deutschlands Pegida und Rechtsradikale zu Zehntausenden gegen Ausländer und »amerikanisch-zionistische« Weltpolitik zu demonstrieren begannen, war ich wütend; als die ersten Flüchtlingsunterkünfte brannten, war ich schockiert; als jede Nacht ein Heim brannte und auf Facebook Tausende Hasskommentare zu lesen waren, fühlte ich nur noch Ohnmacht; als mich in Neukölln, einem Berliner Bezirk mit vielen muslimischen Migranten, nachts ein paar Jugendliche mit »Judensau« anbrüllten und einer von ihnen mich bespuckte, wurde ich richtig krank. Ich nahm zum ersten Mal im Leben die Kette mit dem Davidstern ab, und ich schämte mich – für die Demütigung, für meine Feigheit und für meinen eigenen, plötzlich aufkommenden Hass.

initiative Über Nacht wurde alles anders. Als eines Tages Tausende Asylsuchende mit Kindern und Alten bei fast 40 Grad Hitze ohne Wasser und Essen tagelang in chaotischen Verhältnissen vor einer Erstaufnahmestelle ausharrten und Berliner Bürger – tätowierte Arbeitslose, Kopftuchfrauen, einfache Rentner, kleine Schulkinder, toupierte Sekretärinnen – spontan begannen, Lebensmittel, Schlafsäcke und Kleidung dorthin zu bringen, wachte ich auf aus dem bösen Traum. Deutschland hatte sich plötzlich verändert.

Die Bilder in meinem Kopf verschwammen: nicht mehr nur Viehtransporte, die mich an die Schoa erinnerten, sondern Menschen mit Schildern »Refugees welcome« und glückliche Gesichter. Ich meldete mich bei einer der Flüchtlingsinitiativen, die innerhalb kürzester Zeit wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Seitdem bin ich in den Heimen unterwegs, sortiere Spenden, gebe Essen aus, schreibe Anträge, kaufe Windeln oder organisiere Ausflüge. Auch Adam, mein Mann, ist kaum noch zu Hause – er betreut eine syrische Familie.

Wir werden dafür sorgen, dass Doha aus dem Libanon und Bilal aus Syrien mit ihren schwer traumatisierten drei kleinen Kindern aus ihren »16 Quadratmetern Deutschland« in eine ordentliche Wohnung ziehen können, dass sie Deutsch lernen und dass sie eine Chance haben werden, hier wirklich anzukommen. Als Adam ihnen gleich am Anfang sagte: »Übrigens, meine Frau ist Jüdin, habt ihr ein Problem damit?«, begann Doha zu weinen und umarmte mich.

zivilgesellschaft Die Flüchtlingswelle ist zurzeit fast unser einziges Thema zu Hause. Selbst am Wochenende, als ich wegen einer Feier in Wien war, hielt ich es dort nicht aus, weil am Wiener Westbahnhof über 8000 syrische, irakische und afghanische Flüchtlinge, die in Ungarn wie Vieh behandelt worden waren, auf einen Weitertransport warteten.

Die Hilfsbereitschaft der Wiener war überwältigend und ich euphorisch, bei aller Überfremdungshetze von Politikern hier genau das Gegenteil zu erleben – genau wie in Berlin.

Ja, ich habe Angst. Ich habe Angst, dass die Stimmung wieder kippt, das »dunkle« Deutschland die Oberhand gewinnt oder die Kräfte und der Wille der Zivilgesellschaft nachlassen, wenn es bei einer Million Flüchtlingen dann nicht mehr nur darum geht, Müsli-Riegel und Cola zu verteilen, sondern Kindergarten- und Arbeitsplätze. Hier ist die Politik gefragt, die Zuwanderung auch als demografische Chance für ein Land mit geringer Geburtenrate wie Deutschland sehen sollte. Aber ich bin noch guter Hoffnung.

Israel hat Anfang der 90er-Jahre, als die Sowjetunion zusammenbrach, bei einer Einwohnerzahl von damals knapp fünf Millionen, innerhalb kurzer Zeit mehr als eine Million Russen aufgenommen. Es geht also! Es bereichert die Gesellschaft. Wenn man es will.

magen david Auch Juden wollen es. Unter den Helfern sind viele Juden. Ich bin dennoch enttäuscht von vielen Gemeinden, die schweigen. Ich bin enttäuscht von meinen Juden, die von »Tikkun Olam«, »Zedaka« und »Gmiluth Chassadim« reden und Flüchtlinge kaltschnäuzig zurück in den Krieg schicken wollen, von denen, die in jedem Migranten einen eingeschleusten Terroristen sehen, oder die tönen, das Boot sei voll.

Fast niemand von uns ist in Deutschland geboren, fast alle haben Menschen und eine Heimat verloren, sind irgendwoher geflohen und hier aufgenommen worden. Ich habe die Klage, dass die Welt weggeschaut und viel zu spät eingegriffen hat, als Juden millionenfach verfolgt und ermordet wurden und keiner uns haben wollte, mit der Muttermilch eingesogen.

Ich kann nicht anders. Meine Eltern waren Flüchtlinge. Ich war Flüchtling. Ich sehe mich selbst in den neuen Flüchtlingen. Und ich trage meinen Magen David wieder.

Ehrung

Göttinger Friedenspreis für Leon Weintraub und Schulnetzwerk

Zwei Auszeichnungen, ein Ziel: Der Göttinger Friedenspreis geht 2026 an Leon Weintraub und ein Schulprojekt. Beide setzen sich gegen Rassismus und für Verständigung ein

von Michael Althaus  13.11.2025

Israel

Voigt will den Jugendaustausch mit Israel stärken

Es gebe großes Interesse, junge Menschen zusammenzubringen und Freundschaften zu schließen, sagt der thüringische Regierungschef zum Abschluss einer Israel-Reise

von Willi Wild  13.11.2025

Karneval

»Ov krüzz oder quer«

Wie in der NRW-Landesvertretung in Berlin die närrische Jahreszeit eingeleitet wurde

von Sören Kittel  13.11.2025

Jüdische Kulturtage Berlin

Broadway am Prenzlauer Berg

Vom Eröffnungskonzert bis zum Dancefloor werden Besucherrekorde erwartet

von Helmut Kuhn  13.11.2025

Justiz

Anklage wegen Hausverbots für Juden in Flensburg erhoben

Ein Ladeninhaber in Flensburg soll mit einem Aushang zum Hass gegen jüdische Menschen aufgestachelt haben. Ein Schild in seinem Schaufenster enthielt den Satz »Juden haben hier Hausverbot«

 12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025

Hessen

Margot Friedländer erhält posthum die Wilhelm-Leuschner-Medaille

Die Zeitzeugin Margot Friedländer erhält posthum die höchste Auszeichnung des Landes Hessen. Sie war eine der wichtigsten Stimme in der deutschen Erinnerungskultur

 12.11.2025

Berlin

Touro University vergibt erstmals »Seid Menschen«-Stipendium

Die Touro University Berlin erinnert mit einem neu geschaffenen Stipendium an die Schoa-Überlebende Margot Friedländer

 12.11.2025

Jubiläum

»Eine Zierde der Stadt«: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in Berlin eröffnet

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin eingeweiht. Am Dienstag würdigt dies ein Festakt

von Gregor Krumpholz, Nina Schmedding  11.11.2025