Porträt der Woche

»Ich habe viele Fragen«

»Ein Ort, an dem ich mich zu Hause fühlen kann, muss farbenfroh und warm sein«: Sharon Ryba-Kahn (37) lebt in Berlin. Foto: Stephan Pramme

Porträt der Woche

»Ich habe viele Fragen«

Sharon Ryba-Kahn ist Regisseurin und sieht einen neuen Kultur-Lockdown skeptisch

von Maria Ugoljew  08.11.2020 07:55 Uhr

Hätten Sie vor einigen Monaten ein Porträt über mich gelesen, dann hätten Sie mich womöglich aus einer anderen Perspektive kennengelernt. Ich hätte Ihnen optimistisch und voller Vorfreude davon erzählt, dass mein Dokumentarfilm Displaced im Herbst in die deutschen Kinos kommt. Doch daraus wird nun erst mal nichts. Der Lockdown hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die Premiere am 9. November wurde abgesagt. Eigentlich bin ich mit Displaced auch auf Filmfestivals eingeladen worden; die sind entweder verschoben, finden nun gar nicht oder nur online statt. Letzteres könnte man Glück nennen. Aber das sehe ich anders: Wenn zu viele Zuschauer den Film via Internet sehen, dann geht niemand mehr ins Kino.

UMBRUCH Wir erleben eine Zeit des Umbruchs. Schlimm ist zudem, dass am 9. November in Deutschland nichts passieren wird. Der Jahrestag der Pogromnacht wird in der allgemeinen Öffentlichkeit keine große Rolle spielen. Kein Gedenken und kein Erinnern – was bleibt uns dann noch erhalten?

Noch schlimmer ist es, dass wir nach dem Lockdown direkt in die Weihnachtssaison rutschen. Was ist da wichtig? Geschenke kaufen. Wer wird noch Platz dafür haben, um sich emotional mit der Schoa zu beschäftigen – außer den Betroffenen? Aber das sind nicht die, die erreicht werden müssen, nicht wahr?

Es ist zudem schade, dass der Lockdown nicht als Chance für die Kulturinstitutionen wahrgenommen wird. Man könnte, anstatt essen zu gehen, ins Kino gehen oder ins Theater. Man könnte Kultur leben und nicht nur konsumieren, denn der Lockdown schenkt den Menschen Zeit. Man könnte Kultur gemeinsam in der Familie und mit dem Partner leben. Doch das alles soll nicht sein. Aber schön, dass wir uns die Haare noch schneiden lassen können, damit wir hübsch aussehen.

Mit 28 brach ich den Kontakt zu meinem Vater ab – erst Jahre später nahm ich ihn wieder auf.

Ja, der Skeptizismus hat mich gepackt, aber nicht erst seit Ausbruch des Coronavirus. Ich stehe Deutschland schon seit Langem kritisch gegenüber. Ich bin zwar in München geboren, 37 Jahre ist das jetzt her. Aber ich habe die französische und die israelische Staatsbürgerschaft. Im Nu könnte ich die deutsche annehmen, ich beherrsche die Sprache perfekt, bin mit allem vertraut – doch nicht mal im Traum käme ich auf diese Idee.

ZWECKGEMEINSCHAFT Die Schoa ist hier allgegenwärtig. Ich habe es mit einer Mehrheitsgesellschaft zu tun, die mich lange Zeit wütend gemacht hat. Ein Gefühl, dem ich in Displaced Raum gegeben habe. Die Wut war mein Motor: Sie hat in mir einen kreativen Prozess in Gang gesetzt. Ich wollte verstehen, warum ich bin, wer ich bin, warum ich mich in Deutschland nicht frei fühlen kann.

Obwohl ich hier geboren und aufgewachsen bin, sehe ich mich hier vor allem als Jüdin. Dass ich nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft bin, habe ich als Kind bereits gefühlt. Zum ersten Mal zugehörig empfand ich mich in Israel. Meine Mutter arbeitete dort als Nahostkorrespondentin; als ich 14 Jahre alt war, zogen wir dorthin.

Nach meinem Schulabschluss, den ich am französischen Lycée in Jerusalem absolvierte, ging ich nach Paris, um Schauspiel zu studieren. Danach verschlug es mich für ein weiteres Schauspiel- und Filmproduktionsstudium für vier Jahre nach New York. Heute habe ich das Privileg, mich als Weltbürgerin zu fühlen. Ein spezifisches Zuhause habe ich nicht.

Heute habe ich das Privileg, mich als Weltbürgerin zu fühlen. Ein spezifisches Zuhause habe ich nicht.

Obwohl ich seit 14 Jahren nun in Berlin lebe, bin ich dazu übergegangen, die Stadt und mich »Mitbewohner« zu nennen. Wir sind eine Art Zweckgemeinschaft geworden, im positiven Sinne. Man weiß, was man aneinander hat, was man voneinander erwarten kann und was nicht. Doch zur Liebe reicht es nicht.

Ein Ort, an dem ich mich zu Hause fühlen kann, muss farbenfroh sein und warm. Ich möchte dort auf die Straße gehen und Menschen begegnen können, die einander ansehen und grüßen, ein Ort, an dem gelächelt wird. Ich weiß, dass die Welt sehr groß ist und dass ich diese Orte noch ausfindig machen werde. Berlin ist nicht meine letzte Station. Und doch hat die Stadt mir vieles gegeben: Nach meinem New-York-Aufenthalt habe ich hier Spanisch und Amerikanistik studiert.

KARRIERE Während meines Bachelorstudiums arbeitete ich viel im Filmbereich. Vor allem im Bereich Casting machte ich Karriere. Ich hätte auch eine eigene Agentur gründen können mit Mitte 20. Das hätte bestimmt geklappt. Ich hätte gutes Geld verdient. Doch dieser sichere Weg war nichts für mich.

Stattdessen habe ich zusätzlich noch einen Master in Visueller Anthropologie absolviert. Und zu guter Letzt kam dann mein Regiestudium an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Displaced ist mein Abschlussfilm, aber nicht mein erster langer Dokumentarfilm. Recognition veröffentlichte ich bereits 2015.

Schlimm ist, dass am 9. November in Deutschland nichts passieren wird. Der Jahrestag der Pogromnacht wird in der allgemeinen Öffentlichkeit keine große Rolle spielen.

In dem Projekt hatte ich alles selbst übernommen: Regie, Kamera, Drehbuch, Koproduktion. Ich porträtiere darin drei Frauen, die in Israel leben: der Teenager Noga, die davon träumt, in eine Kampfeinheit der israelischen Armee aufgenommen zu werden, die religiöse Sozialarbeiterin Moran, die in der Stadt Sderot lebt, die von Raketen aus Gaza bedroht ist, und die israelisch-palästinensische Frau Hanadi, die, ebenfalls in Sderot lebend, um ihre Identität kämpft.

FAMILIE In Displaced widme ich mich meiner eigenen Familiengeschichte, genauer gesagt, jener väterlicherseits. Mit meinem Vater hatte ich lange Zeit keinen Kontakt, ich brach ihn mit 28 ab. Erst an meinem 35. Geburtstag sprachen wir wieder miteinander. Die Filmarbeiten begannen ein paar Monate später.

Mein Vater kam 1947 als Staatenloser zur Welt. Er hat nie mit mir über die Schoa gesprochen. Sein Vater, also mein Großvater, war ein Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz. Nach dem Krieg landeten sie in München. In seiner polnischen Heimat gab es keine überlebenden Familienmitglieder mehr.

Ich hatte sehr viele Fragen an meinem Vater, der seit 2016 in Israel lebt. Ich wollte verstehen, warum er so distanziert und wenig greifbar war in meinem Leben. Ich wollte wissen, wie es sich für ihn angefühlt hat, in Deutschland aufzuwachsen, wie sein Verhältnis zu den Eltern war, was ihm sein Vater über die Schoa erzählte.

TABU Mit der Zeit entdeckte ich eine Gemeinsamkeit zwischen uns: Auch er empfand, dass die Vergangenheit in Deutschland immer spürbar war, ganz besonders in seinen sozialen Beziehungen, das erklärt er im Film. Gerne hätte er gewusst, warum seine Eltern als Holocaust-Überlebende in Deutschland blieben, aber es gab keine persönlichen Gespräche darüber.

Meine Familie mütterlicherseits war und ist eine gänzlich andere: Sie sind französische Juden. Die Schoa ist zwischen uns kein Tabu. Meine Großmutter beschäftigt sich seit nun 30 Jahren intensiv mit Geschichte – sie ist früher in Rente gegangen, um dies noch einmal zu studieren und um Bücher darüber zu schreiben. Sie hatte das dringende Bedürfnis, mehr verstehen zu wollen, diese Kraft hat natürlich nicht jeder.

Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen in Deutschland verstehen wollen.

Ich habe zwei sehr unterschiedliche Familienteile, auf der einen Seite das warmherzig-liebevolle Umfeld meiner Mutter, in dem ich aufgewachsen bin, und auf der anderen Seite die distanziert-rationale Haltung meines Vaters. Dass diese familiären Eigenschaften nicht aus dem Nichts kommen, sondern dass sie ihren Ursprung haben – das wollte ich verstehen.

Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen in Deutschland verstehen wollen. Ich vermisse bei nichtjüdischen Deutschen oft die Bereitschaft, selbst Familienforschung zu betreiben und genauer wissen zu wollen, wer ihre Großväter waren. Die Beschäftigung mit der NS-Zeit darf nicht aufhören, wir brauchen den Austausch darüber. Mein Film ist ein Plädoyer dafür, nicht aufzuhören, Fragen zur Vergangenheit zu stellen.

ELES Zurück zum Heute: Glücklicherweise habe ich trotz der gegenwärtigen Krise viel zu tun. Mein dritter Dokumentarfilm, Liebe bis 120, befindet sich derzeit im Schnitt. Mit der Trilogie – als solche verstehe ich Recognition, Displaced und Liebe bis 120 – setze ich einen persönlichen Punkt bezüglich meiner Auseinandersetzung mit den Themen Schoa und jüdische Identität.

Ich schlage jetzt ein neues Kapitel auf: Seit Oktober promoviere ich zum Thema Visualisierung von Traumata in Dokumentarfilmen, ebenfalls an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Es handelt sich um eine künstlerisch-wissenschaftliche Doktorarbeit. Dies bedeutet, dass in dem Rahmen auch ein Dokumentarfilm entstehen wird. Das ELES-Studienwerk unterstützt mich darin mit einem Stipendium.

Ich bin gespannt, welche neuen Geschichten ich entdecken und erzählen werde.

Aufgezeichnet von Maria Ugoljew

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