Porträt der Woche

»Ich folge dem Bauchgefühl«

Nathalie Gleitman bekämpfte mit pflanzenbasierter Ernährung ihre Unverträglichkeiten Foto: Liya Geldman

Porträt der Woche

»Ich folge dem Bauchgefühl«

Nathalie Gleitman bloggt über gesunde Ernährung und setzt auf Eigenverantwortung

von Sophie von Zitzewitz  27.08.2022 21:14 Uhr

Gemeinsamens Essen hat unsere Familie immer zusammengebracht. Vor allem der Schabbat hatte einen hohen Stellenwert. Als Kind haben wir diesen sehr oft bei meinen Großeltern verbracht – meine Oma hat immer traditionell gekocht, und daran habe ich viele schöne Erinnerungen. Meine Eltern waren berufstätig, und meine Mama war dabei sehr gesundheitsbewusst und hat sich immer bemüht, uns ausgewogen und gesund zu ernähren. Auch mein Papa hat ein paar Tricks aus dem Ärmel gezaubert und gerne am Wochenende für uns gekocht.

Als Kind in Bayern kein Schweinefleisch zu essen, hat mir nie eine Außenseiterrolle beschert, da ich die Sinai-Schule, einem jüdischen Kindergarten mit Grundschule, besuchte. Das änderte sich auch nicht, als ich bis zur 10. Klasse auf das Luitpold-Gymnasium ging und dann mit 16 auf ein Internat nach England wechselte, weil es damals in München noch keine weiterführende jüdische Schule gab.

Kindheit In meiner Münchener Heimat hatte ich eine sehr behütete Kindheit und zusammen mit meinem Bruder, der heute in New York wohnt, meinen Eltern und allen Großeltern ein traditionelles Judentum gelebt. Im Vordergrund unserer Erziehung standen die Familie an sich und jüdische Werte sowie ein starkes Bewusstsein für die Schoa. Meine Großeltern väterlicher- wie mütterlicherseits kommen ursprünglich aus Polen und sind als Holocaust-Überlebende in Deutschland geblieben. Einerseits, weil sie aus Konzentrationslagern im bayerischen Umland befreit wurden, dort auf Visa warteten, einen Partner fanden oder sich noch mehr davor fürchteten, nach Polen zurückzukehren. Meine Eltern kamen schließlich in München zur Welt und wuchsen hier auf.

München ist für mich eine emotionale Heimat geblieben.

Als ich mit 18 zum Studium an die Reichman Universität in Herzliya ging und Betriebswirtschaft mit dem Schwerpunkt Marketing studierte, schloss sich für meine Familie ein Kreis. Wir sind zionistisch erzogen worden und in meiner Kindheit und Jugend oft zu den Feiertagen nach Israel gereist. Meinen Bruder in einer jüdischen Hochburg wie New York zu wissen und ihre Tochter in Israel, das hat sie stolz gemacht. Wir verkörpern ihre Sehnsucht, ins Unbekannte aufzubrechen und uns anderswo ein Leben aufzubauen.

Die Brücke von Deutschland nach Israel schlagen zu können, ist für mich ein wahr gewordener Traum. Aus beruflichen Gründen pendle ich jeden Monat zwischen beiden Ländern. Das ermöglicht mir, den Ort meiner Kindheit und meine Familie nicht aus den Augen zu verlieren. München hat für mich emotional einen sehr hohen Stellenwert.

Instagram In professioneller Hinsicht ist mir Deutschland wichtig, da hier der Grundstein meiner Karriere gelegt wurde. Zuerst ging mein persönlicher Ratgeber- und Rezepte-Blog online, und schließlich veröffentlichte ein Verlag mein erstes Kochbuch »Happy Healthy Food«, das helfen soll, Darmprobleme zu enttabuisieren.
Schamlos gesund – in dem Sinne will ich kulinarische Trends unter dem Aspekt des körperlichen Wohlergehens lenken und gebe hierfür auf meinen Kanälen auf Facebook und Instagram täglich Tipps. Ich nutze Fernsehauftritte, um über das Thema Ernährung und Gesundheit zu reden und arbeite an zukünftigen Projekten in diesem Bereich.

Da ich das auf Deutsch mache, bin ich in den israelischen sozialen Netzwerken weniger präsent, was auch daher rührt, dass der Fokus auf Gesundheit in Deutschland noch präsenter ist. Sowohl was die die Auswahl an Produkten, als auch die gesellschaftliche Relevanz angeht. Ich befasse mich dabei auch selbst mit meinen Wurzeln und kann ein Verbindungsstück zwischen dem deutschen Publikum und der lebendigen Nahost-Küche sein. Anders als wir Deutschen legen Israelis nämlich noch mehr Wert auf Genuss, und ihre Küche gestaltet sich meiner Meinung nach frischer und bunter.

Nicht nur deshalb hängt mein Herz inzwischen an Tel Aviv, vielleicht auch, weil ich hier dieses Jahr geheiratet habe. Als intuitiver Mensch haben wenige meiner Entscheidungen viel mit Logik zu tun, eher folge ich meinem Bauchgefühl. Ich fühle mich unbeschreiblich wohl in Israel. Dabei muss ich sagen, dass ich mich ohne Familie vor Ort und mit meiner Arbeit in Deutschland eher in einer internationalen Blase bewege. Nach dem Bachelor überlegte ich, doch noch einen anderen Lebensmittelpunkt zu wählen, aber das Heimatgefühl hat mich immer wieder zurück nach Tel Aviv geholt. Und ich stellte fest, dass ich stets einen Kloß im Hals hatte, wenn ich Israel wieder verließ. Ich bin immer wieder erleichtert, wenn ich dort ankomme.

Energie Mein Wohlgefühl schwand jedoch wenige Monate nach dem Abschluss meines Studiums. Immer häufiger plagten mich Magenschmerzen, Schwindel und Verdauungsprobleme, oder es trat Herzrasen auf. Sobald ich etwas aß, fehlte es mir an Energie. Nachts wiederum fand ich keinen Schlaf. Ich zog mich zurück und fragte mich, wie Ernährung und Gesundheit miteinander zusammenhängen. Damals stand ich samt Uni-Abschluss mitten im Leben, aber mein Unwohlsein hinderte mich an jeglichem Vergnügen in Tel Aviv. Es folgten eine Ärzte-Odyssee und unterschiedliche Diagnosen, die auf das Ergebnis Unverträglichkeiten hinausliefen. Das ist jetzt zehn Jahre her, und im Rückblick war dieses Thema alles andere als sexy.

Was eine Unverträglichkeit von Histamin, Gluten und Laktose überhaupt bedeutet, musste ich selber erst einmal herausfinden. Einerseits sehnte ich mich danach, mich aus Gesundheitsgründen nicht vor der Welt verschließen zu müssen. Andererseits fürchtete ich, meine Gesundheit meiner Lebenslust zu opfern. Heute lautet meine Mission, ohne Scham zu seiner individuellen Genesung stehen zu können. Nur weil ich keinen Alkohol trinke, bin ich keine Spaßbremse, und wenn ich im Restaurant nach der Zutatenliste frage, lebe ich so, wie es für mich am besten ist.

beraterin Inzwischen bin ich zertifizierte Ernährungsberaterin, auch wenn ich in diesem Feld nicht tätig bin und stattdessen meinen Followern vorleben will, wie man unkompliziert selbst kocht und seine Ernährung mit Spaß umstellen kann. An der israelischen Küche fasziniert mich dabei die Kreativität. Ich habe täglich ein kulinarisch vielfältiges Repertoire von Gewürzen, Hülsenfrüchten, Obst und Gemüse zur Verfügung, was ich in meinem zweiten Buch Me Food, My Food, My Tel Aviv auch thematisiere.

Die israelische Kochphilosophie interpretiere ich à la Nathalie neu und verzichte auf Schubladen wie vegetarisch oder vegan. Zwar koche ich pflanzenbasiert, aber verwende keine veganen Zusatzprodukte wie Fleischersatz aus Soja. Vielmehr steht im Vordergrund, dass die Produkte natürlich, frisch und unverarbeitet sind. Das hält mich nicht davon ab, gelegentlich Fisch und Eier zu essen, nur auf Fleisch verzichte ich gänzlich.

Sich langfristig täglich einen kleinen Gefallen zu tun, ist für unsere Gesundheit schon ein großer Schritt. Das muss nicht heißen, dass man dafür bereits mittags aufhört zu arbeiten und anschließend nur noch meditiert. Neben dem wichtigen Aspekt der Ernährung widme ich mich beispielsweise auch der Bekämpfung von Stress und achte persönlich darauf, dass ich mich ausreichend bewege, ohne mir anstrengende Fitness-Mantras aufzuzwingen.

Eigenverantwortung Anstatt auf die Wunderpille zu warten, die all unsere Probleme löst, möchte ich Leute inspirieren, ihre ganz eigene Routine zu finden, mit vorzüglichem Essen und vielleicht hier und da einer kleinen Atemübung. Meine eigene Ernährungsumstellung hat mir gezeigt, dass man seinen Darm sanieren und Unverträglichkeiten wieder loswerden kann.

Das Gleiche gilt zwar nicht für Allergien, aber durch meinen Lebensstil möchte ich Mut machen, dass man mit seiner Ernährung sehr viel in der Hand hat. In der Hinsicht bin ich definitiv im »Team Eigenverantwortung«.

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