Berlin

Gegen den Strom

Alles vorwärts – los!» Am Großen Wannsee tauchen die Ruderblätter ins Wasser. «Welle-Poseidon» heißt der altehrwürdige Klub, Detlef Heinrich steigt gerade die Außentreppe des Klubhauses hinab, ein paar Kinder und Jugendliche kommen ihm entgegen. Trainingsbeginn.

Fröhlich begrüßen die jungen Sportler den ersten Vorsitzenden ihres Vereins. Hier kennt jeder jeden. Manche Familien sind seit Generationen in dem Traditionsverein, der vor 130 Jahren gegründet wurde. Bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten war die Hälfte der Mitglieder jüdisch.

Detlef Heinrich erzählt, die jüdische Geschichte des Vereins sei den heute 220 Mitgliedern nach wie vor sehr präsent. Der 59-Jährige kommt aus einer ruderbegeisterten Familie und ist seit seiner Kindheit im Verein. Der wurde am 12. März 1894 gegründet und entwickelte sich schon bald zu einem Ruderklub, in dem Berliner, seien sie Christen oder Juden, ganz selbstverständlich zusammen Sport trieben. Später kam eine Kooperation mit der jüdischen Mädchenschule hinzu.

Wer sich näher mit der Geschichte des Vereins beschäftigt, erfährt, dass sich die christlichen Mitglieder in einer mutigen Aktion dem sogenannten Arierparagraphen der Nationalsozialisten widersetzten: Die nichtjüdischen Mitglieder von Welle-Poseidon weigerten sich, ihre jüdischen Kameraden auszuschließen. Stattdessen traten alle aus dem Verein aus und zeigten damit ihre Solidarität. Wenige Jahre später führten jedoch die ständigen Repressionen und die zunehmend verschärften Bedingungen 1939 zur Zwangsauflösung des Vereins.

Auch heute ist die Vergangenheit im Vereinsalltag spürbar.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete sich der Ruderklub neu und zog – über Umwege – 1963 in den damals modernen Zweckbau auf das 3600 Quadratmeter große Grundstück am Wannsee, wo er noch heute beheimatet ist. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Liebermann-Villa und dem Haus der Wannseekonferenz, in dem einst die Vernichtung der Juden Europas besiegelt wurde.

Auch heute ist die Vergangenheit im Vereinsalltag spürbar. Nähert man sich dem Ruderverein von der Straße aus, passiert man eine Messingtafel links neben dem Eingang. Die jahrzehntelange Verwitterung hat das Schild mit einer Patina überzogen, sodass es mit dem herbstlichen Laub beinahe verschmilzt. «In Gedenken an die jüdischen Mitglieder, die durch den nationalsozialistischen Terror umgebracht oder zur Auswanderung gezwungen wurden. Der Verein fand damals seinen Weg des Widerstands – Verpflichtung zu Toleranz und Menschlichkeit heute», steht darauf eingraviert.

Es ist ein Bekenntnis wie eine Mahnung zugleich. Heute bestehe der Bezug zur jüdischen Geschichte des Vereins vor allem darin, Erinnerungsarbeit zu leisten und Kontakt zu den Nachfahren ehemaliger jüdischer Mitglieder zu pflegen, erklärt Detlef Heinrich.

«Boot geht – hoch!» Auf das Ruderkommando hin hieven die Kinder und Jugendlichen Einer (auch Skiffs genannt), Zweier, Vierer aus der Halle und setzen sie ins Wasser. Dann stellen sie sich zur Trainings­besprechung im Kreis auf. Von der Wasserseite aus gut sichtbar weht neben den Vereinsfahnen auch die israelische Flagge am Mast. «Die haben wir auch nach dem 7. Oktober 2023 nicht abgenommen», sagt der Vorsitzende. Man habe keine Angst vor Anschlägen gehabt – und stehe zur Geschichte des Vereins.

Trotz Temperaturen um die zwölf Grad sind rund ein Dutzend Kinder und Jugendliche zum Training erschienen. «In der kalten Jahreszeit treffen wir uns montags in der Sporthalle, am Donnerstag im Kraftraum, und samstags haben wir Training am Wasser», sagt der zehnjährige Carlos. Fröstelnd zieht er seine Jacke zu. Heute geht das Training bis 12.30 Uhr.

Ganz schön zeitintensiv – schafft man das überhaupt, so neben der Schule? «Na klar», antwortet Leon, der neben Carlos steht. Die beiden Fünftklässler besuchen dieselbe Schule. «Frei – weg!» Wenn sie auf dem Wasser sind, vergessen sie alle Sorgen: «Es macht total viel Spaß», egal ob Sommer, Herbst oder Winter.

Und ist der See dann mal zugefroren, geht es in den Kraftraum. «Dann machen wir kindgerechtes Krafttraining, und unsere jüngeren Athleten trainieren Bewegungsabläufe an den Ergometern», sagt Detlef Heinrich.

Die nichtjüdischen Mitglieder weigerten sich, ihre jüdischen Kameraden auszuschließen.

Jetzt im Herbst ist auf dem Wasser noch viel los. Hier und dort tauchen Ruderboote anderer Vereine auf, ein Motorboot surrt vorbei, ein Windsurfer im Neoprenanzug klettert am Nachbargrundstück an Land. Was setzt der Rudersport neben der Begeisterung für den Wassersport voraus? «Wer hier rudert, muss auch die Schule gut im Griff haben», antwortet Heinrich. «Weniger Couchzeit, weniger Handyzeit», so der Vorsitzende. «Wir machen hier schließlich Leistungssport», ergänzt Benny, der Jugendtrainer, und teilt die Gruppen den Booten zu.

Anders als viele andere Berliner Wassersportvereine leidet «Welle-Poseidon» keineswegs an Überalterung. Der Klub, dessen Vereinsflagge einen weißen Stern im Zentrum eines roten Kreises aufweist, kann über mangelndes Interesse nicht klagen. Während die Senioren im Casino im ersten Stock schon ihr erstes Bier heben, das sie sich nach dem Rudern verdient haben, wuseln die Jungen an der Wasserkante auf und ab.

«Wir bekommen mehr Anfragen von jungen Leuten, als wir zurzeit Kapazitäten haben», sagt Heinrich. Das gute Vereinsklima habe sich herumgesprochen: an den Schulen, unter Bekannten, in der Nachbarschaft. «Wir haben auch mehrere jüdische Mitglieder aus Berlin und Potsdam», sagt Heinrich. Aber die Religionszugehörigkeit frage man natürlich nicht ab.

Hannah überragt ihre männlichen Altersgenossen um Kopfeslänge. Heute sind es nur drei Mädchen, neben sieben Jungen. Macht ihnen das etwas aus? «Überhaupt nicht, ich bin ja mit meiner Freundin hier», antwortet die 14-Jährige. Sie gehört inzwischen zu den Junioren im B-Bereich. Mit schnellen Schritten eilt sie ins Bootshaus und kommt mit einem Ruder zurück. Das fehlte noch.

Im Lager liegen knapp 40 Boote fein übereinandergestapelt, zum Teil aus glänzend lackiertem Mahagoni und Zedernholz. Ein Gesamtwert von rund 450.000 Euro. «Übungseiner, 4-er, 3-er, 2-er, 8-er sowie ein ungesteuerter 7-er, der auch zum 6-er mit Steuermann umgerüstet werden kann», erklärt Benny. Carlos gibt jedem, der noch in die Runde kommt, einen High Five.

Viele der Jugendlichen sind über ihre Eltern zum Ruderklub gekommen. «Meine Mutter ist schon seit zwei Jahren dabei», erzählt er, da habe auch er Feuer gefangen. «Man muss Spaß daran haben, auf dem Wasser zu sein, man muss gut mit den anderen im Team auskommen, und man sollte ein bisschen Disziplin mitbringen», zählt er auf. «Und wenn man etwas ausgefressen hat, muss man zehn Liegestütze machen», ergänzt Tassilo. Beide zucken mit den Schultern und grinsen.

Nachdem alle miteinander geschwatzt haben und die Handys in die Trainings­taschen gewandert sind, mahnt der 16-jährige Benny zur Aufmerksamkeit. «Wir mischen heute ein bisschen die Einer und die Zweier, okay?», sagt er an die Gruppe gerichtet. Alle nicken. Leon und Jan werden für einen Zweier eingeteilt. Trainer Benny ist seit seinem zehnten Lebensjahr Klubmitglied, früher waren auch seine beiden Geschwister dabei.

Am ersten Steg steht Leo vor seinem Skiff . Der Junior der A-Liga trainiert heute allein. Der 18-Jährige hat bereits mehrere Titel gewonnen: Er ist Deutscher Jugendmeister im 4-er und Deutscher Vizemeister im 2-er, erklärt Heinrich. Er sei einer, zu dem die anderen aufschauen. Vorsichtig balancierend, eine Hand auf beiden Rudern, steigt er in das kippelige Boot.

Sicher, dabei fällt auch schon mal jemand ins Wasser. «Klar», sagt Leo, «das gehört dazu.» Benny bestätigt: «Das Kentern trainieren wir regelmäßig auf dem Wasser.»

Es ist nicht leicht, auf dem See und in voller Montur wieder ins Boot zu kommen. Voraussetzung für den Rudersport sei ohnehin, dass jedes Vereinsmitglied sehr gut im Schwimmen ist. Unterdessen hat der Trainer Tassilo und Julian fest im Blick. Beide schultern ein 7-Meter-Boot. Sehr konzentriert, als hätten sie nie etwas anderes gemacht.

Gut sichtbar weht neben den Vereinsfahnen auch die israelische Flagge am Mast.

«Alles vorwärts – los!» Jetzt heißt es rudern. Immer im gleichen Rhythmus, oft rund um den ganzen Wannsee. Heute aber stehen Übungen auf dem Programm. Wendemanöver, «Hochscheren! Boot stellen!» Bei hohem Wellengang muss das Boot auch mit den Riemen über Wasser ruhig und sicher stehen.

In den Vitrinen des Klubhauses finden sich Fotos und Artefakte, die die Vereinsgeschichte von der Vorkriegszeit bis zum Jahr 1939 nachzeichnen. «Wir haben eine umfangreiche Sammlung von Fotos, Briefen, Mitgliederlisten, Pokalen und anderen Dingen, die an unsere jüdischen Kameraden erinnern, bevor sie fliehen mussten», sagt Heinrich. Etliche haben es geschafft, Deutschland zu verlassen, andere wurden deportiert und in der Schoa ermordet.

Zu einigen ehemaligen jüdischen Mitgliedern und ihren Familien besteht bis heute enger Kontakt. «Nachfahren schauen immer wieder vorbei», erzählt Heinrich. Erst im Sommer waren die Enkel zweier früherer jüdischer Vereinsmitglieder aus den USA zu Besuch – gemeinsam mit ihren Kindern. Ihre Großeltern, Eva Goldstrom und Heinz Karo, hatten sich einst im Verein kennengelernt und sich ineinander verliebt.

«Ohne Welle-Poseidon gäbe es uns heute nicht», sagen die Nachkommen. Detlef Heinrich lächelt stolz: Eine der Enkelinnen aus Amerika ist inzwischen Fördermitglied des Vereins – eine Verbindung, die über Generationen hinweg trägt.

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