Bellevue

Gedankenaustausch im Schloss

Neutralität dürfe keine Antwort auf Rassismus sein, mahnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Foto: dpa/Annegret Hilse

Deutliche Worte erleichtern den Einstieg in ein schwieriges Thema. »Für mich beginnt das mit einer simplen Einsicht, die aber für jeden von uns von großer Tragweite ist: Neutralität darf keine Antwort auf Rassismus sein«, betont Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. »›Ich bin doch kein Rassist‹ darf keine Antwort auf Rassismus sein. Jedenfalls nicht für Demokratinnen und Demokraten.«

Die aktuellen Ereignisse von Minneapolis waren für ihn der ganz konkrete Anlass, um über die Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung zu sprechen, die schwarze Menschen auch hierzulande im Alltag machen müssen.

AUSGRENZUNG Denn das Staatsoberhaupt warnt davor, so zu tun, als ob es sich dabei um ein rein amerikanisches Phänomen handeln würde und hierzulande alles in bester Ordnung wäre. »Nein, Deutschland ist nicht immer und überall ein Hort der Toleranz. Auch hier werden Menschen ausgegrenzt, angegriffen und bedroht, weil ein beliebiges Merkmal sie als Angehörige einer Minderheit ausweist: weil sie eine dunkle Hautfarbe haben, eine Kippa tragen, in der Moschee beten oder einfach anders aussehen als die Mehrheit.«

Trotz der Aufarbeitung der NS-Zeit gibt es weiterhin strukturellen Rassismus, so die Erfahrung.

Zu dem Gedankenaustausch ins Schloss Bellevue hatte der Bundespräsident vier Betroffene eingeladen, und zwar den ehemaligen Fußballnationalspieler Gerald Asamoah, die Lehrerin und Bildungsaktivistin Gloria Boateng sowie Daniel Gyamerah, Bereichsleiter des Thinktanks »Citizens For Europe«, und Vanessa Tadala Chabvunga, eine Schülerin des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn in Berlin.

Sie alle haben sehr unterschiedliche Lebensläufe – aber eines eint die vier dennoch. »Und zwar die Erfahrungen, die sie irgendwann machen mussten, doch nicht ganz dazuzugehören«, bringt es Steinmeier auf den Punkt.

BELEIDIGUNGEN Sowohl Asamoah als auch Gyamerah wussten davon zu berichten, dass sie in bestimmten Situationen auffallend häufig von der Polizei angehalten und kontrolliert wurden. »Ich musste mit meinem Mercedes nur aus dem Autohaus, wo ich ihn gekauft hatte, rausfahren und wurde schon wenige Minuten später von Beamten angehalten, weil ihnen ein Schwarzer am Steuer eines solchen Wagens bereits verdächtig schien«, erzählt Asamoah. Als Fußballer erlebte er Beleidigungen und Übergriffe im Stadion.

»In Cottbus wurde ich mit Bananen beworfen.« Konsens unter den Gesprächsteilnehmern herrschte ebenfalls in der Einschätzung, dass es sich beim Rassismus hierzulande um ein strukturelles Problem handelt. »In Deutschland ist es versäumt worden, davon überhaupt zu sprechen«, sagt Gyamerah.

»Und trotz der intensiven Aufarbeitung der NS-Geschichte gibt es weiterhin diesen strukturellen Rassismus«, so die Erfahrung. Als eine der Ursachen nennt er Defizite im Bildungswesen, zum Beispiel bei der Ausbildung von Lehrern oder Polizeibeamten.

MEHRHEITSGESELLSCHAFT »Dabei han-
delt es sich nicht nur um ein System, das andere einfach nur benachteiligt«, ist Boateng überzeugt. »Vielmehr werden Betroffene entwürdigt, weil ihnen schlichtweg die Möglichkeiten verweigert werden, sich so entwickeln zu können wie die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft.«

Die Lehrerin bringt darüber hinaus eine weitere Beobachtung zur Sprache, die viel mit der fast schon zwanghaften Fokussierung auf Herkunft zu tun hat, wie sie glaubt. »Es findet eine Art Reduzierung statt. Ständig müssen wir uns rechtfertigen, warum man angegriffen wird.«
Sie erzählt unter anderem von einer absurden Begegnung vor Kurzem beim Joggen im Park, als eine ihr völlig unbekannte Frau sie stoppte und unbedingt von ihr wissen wollte, was Boateng denn von den Ausschreitungen in den Vereinigten Staaten halten würde.

Dass gut Gemeintes in diesem Kontext auch das Gegenteil hervorbringen kann, scheint die Erfahrung von Chabvunga gewesen zu sein. Sie kam im Alter von sieben Jahren nach Deutschland. Ohne irgendwelche Kenntnisse der Sprache wurde sie eingeschult, und zwar in einer sogenannten »Willkommensklasse« für Zugewanderte, die kein oder nur wenig Deutsch konnten. »Damit war man schon in der Grundschule sofort ausgegrenzt«, sagt sie.

Am Jüdischen Gymnasium konnte Vanessa aufatmen. Die Diversität dort sei sehr ausgeprägt, sagt sie.

Aber Chabvunga hatte Glück, eine Lehrerin erkannte ihr Potenzial und kümmerte sich nach dem Unterricht um sie, gab ihr Nachhilfe in Deutsch oder anderen Fächern. »Auf diese Weise hatte ich es dann geschafft, nach der 6. Klasse eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen.« Doch das Thema Schule sollte weiterhin für sie von Bedeutung sein.

SCHMÄHUNGEN Denn bevor Chabvunga aufs Jüdische Gymnasium Moses Mendelssohn wechselte, wo die Schülerin den Bundespräsidenten bereits im Januar anlässlich eines gemeinsamen Gesprächs mit dem israelischen Staatspräsidenten Reuven Rivlin kennengelernt hatte, war sie an einer anderen Schule, wo Schmähungen aufgrund ihrer Hautfarbe nichts Ungewöhnliches waren.

»Ich hatte in meiner alten Schule sehr viele unangenehme Erfahrungen mit Rassismus machen müssen«, sagt die Gymnasiastin. Wenn Hitler noch leben würde, dann wäre sie tot, bekam die Schülerin sogar zu hören. Irgendwann reichte es ihr, und sie wechselte auf das Jüdische Gymnasium. »Meine Mutter hatte das Gefühl, dass mir so etwas dort erspart bliebe.«

VIELFALT Sie riet ihrer Tochter, es zu versuchen, dort angenommen zu werden. Schon die Gespräche mit der Schulleitung im Vorfeld gaben ihr das Gefühl, anders behandelt zu werden. Das Mädchen konnte aufatmen. »Die Gespräche waren sehr angenehm und in freundlicher Atmosphäre. Die Diversität ist dort sehr ausgeprägt«, erzählt die 18-Jährige, die im kommenden Jahr Abitur machen wird. »Rund 70 Prozent haben einen russischen Hintergrund. Auch gibt es Israelis oder Ukrainer. Und auch ein paar afrikanische Schüler.«

Zu Freunden von früher hat sie zwar noch Kontakt. Aber die alte Schule betritt Chabvunga nicht mehr. »Als ich das letzte Mal dort war und erzählt habe, dass ich jetzt auf das Jüdische Gymnasium gehe, hieß es: ›Wie? Jetzt auch noch jüdisch? Schwarz zu sein, reicht dir nicht?‹«

Interview

»Physisch geht es mir gut, psychisch ist ewas anderes«

Sacha Stawski über den Angriff auf ihn und seine Kritik an Frankfurts Oberbürgermeister

von Helmut Kuhn  28.08.2025

München

»In unserer Verantwortung«

Als Rachel Salamander den Verfall der Synagoge Reichenbachstraße sah, musste sie etwas unternehmen. Sie gründete einen Verein, das Haus wurde saniert, am 15. September ist nun die Eröffnung. Ein Gespräch über einen Lebenstraum, Farbenspiele und Denkmalschutz

von Katrin Richter  28.08.2025

Zentralrat

Schuster sieht Strukturwandel bei jüdischen Gemeinden

Aktuell sei der Zentralrat auch gefordert, über religiöse Fragen hinaus den jüdischen Gemeinden bei der Organisation ihrer Sicherheit zu helfen

 27.08.2025

Gedenken

30 neue Stolpersteine für Magdeburg

Insgesamt gebe es in der Stadt bislang mehr als 830 Stolpersteine

 26.08.2025

München

Schalom, Chawerim!

Der Religionslehrer Asaf Grünwald legt Woche für Woche in Kurzvideos den aktuellen Tora-Text für die Gemeindemitglieder aus

von Luis Gruhler  26.08.2025

Frankfurt am Main

Jüdische Gemeinde ehrt Salomon Korn und Leo Latasch

Beide haben über Jahrzehnte hinweg das jüdische Leben in der Stadt geprägt

 26.08.2025

Neuanfang

Berliner Fußballverein entdeckt seine jüdischen Wurzeln neu

Im Berliner Stadtteil Wedding spielt ein unterklassiger Amateurverein, dessen Geschichte mit einigen der bedeutendsten jüdischen Vereine der Stadt verbunden ist. Der junge Vorstand des Vereins will die eigene Geschichte jetzt aufarbeiten

von Jonas Grimm  25.08.2025

Geburtstag

Renate Aris wird 90

Die Chemnitzer Zeitzeugin prägt seit Jahrzehnten das jüdische Leben der Stadt. Sie hat noch viel vor – eine Tour auf dem »Purple Path« zum Beispiel

von Anett Böttger  25.08.2025

Interview

Unikate und Exlibris

Seit fünf Jahren arbeitet Susanne Riexinger in der Münchner Gemeindebibliothek. Ein Gespräch über Katalogisierung, Provenienz und Geschichte in Büchern

von Luis Gruhler  24.08.2025