Porträt der Woche

Ein Sammelsurium von Stilen

»Während meiner Zeit als Journalist in Israel sehnte ich mich nach Musik«: Gilead Mishory (60) lebt als Pianist, Komponist und Professor in Freiburg. Foto: Rita Eggstein

Porträt der Woche

Ein Sammelsurium von Stilen

Gilead Mishory ist Komponist und arbeitete früher als Knesset-Berichterstatter

von Anja Bochtler  10.01.2021 13:30 Uhr

In meiner Kindheit stand meine Mutter am Herd und sang beim Kochen vor sich hin. Ich bin genauso. In meinem Kopf läuft ständig Musik. Ich bin Pianist, Komponist und seit 20 Jahren Professor für Klavier an der Musikhochschule in Freiburg. Und ich freue mich über jeden Tag, den ich so verbringe, liebe die pädagogische Arbeit, habe mit unglaublich begabten jungen Musikern zu tun. Aber auch als Pianist auf der Bühne zu sein, ist etwas Einmaliges.

Das Komponieren kam vor etwa 25 Jahren »aus der Tiefe« und musste heraus. Viele meiner Stücke haben mit Literatur zu tun. Sie berühren die Nahtstelle zwischen jüdischer und deutscher Kultur, religiöse Themen, den Holocaust. Das liegt nahe: Ich bin 1960 in Jerusalem geboren und kam vor 36 Jahren nach Deutschland.

Pianist werden? Mit 21 Jahren? Dafür entscheiden sich andere als Zwölfjährige.

Wenn ich als Kind mit meinem Vater in Jerusalem unterwegs war, grüßten ihn dauernd viele Leute. Shimon Mishory war der Konzertmeister des Radioorchesters in Jerusalem und überall sehr bekannt. Schon als Kleinkind nahm er mich mit zu Orchesterproben und Konzerten. Musik war ein selbstverständlicher Teil des Lebens. Trotzdem sind meine jüngere Schwester und ich sehr durchschnittlich und bescheiden aufgewachsen. Wir lebten in einer Wohnung mit zweieinhalb Zimmern.

Als ich sechs Jahre alt war, fragten mich meine Eltern, ob ich ein Instrument spielen wolle, vielleicht Klavier? Ich sagte: »Nein. Klavier ist für Mädchen!« Ein Versuch, Blockflöte zu lernen, wie einige Freunde von mir, endete schnell wegen unglaublicher Langeweile.

Doch mit neun Jahren wollte ich plötzlich Klavier lernen. Ich weiß nicht, warum. Ich galt als sehr begabt, aber ich hatte nie die Ambition, Pianist zu werden. Stattdessen führte ich ein ganz durchschnittliches Kinder- und Schülerleben. In der elften Klasse habe ich mich nach dem Abschlusskonzert am Konservatorium vom Klavier verabschiedet. Es folgte eine jahrelange Pause.

JOURNALIST Nach dem Abitur bewarb ich mich für meinen Armeedienst beim Armeesender »Galei Zahal« als Musikredakteur, landete aber letztendlich in der Nachrichtenredaktion. Fünf Jahre lang war ich Berichterstatter aus der Knesset. Ich hatte also immer mit den Abgeordneten, aber auch mit Politikern wie Schimon Peres, Ariel Scharon oder Ehud Olmert zu tun. Für meine viel älteren Journalisten-Kollegen war ihr Job der Gipfel ihrer Karriere.

Doch obwohl ich immer im Zentrum des Geschehens war, befriedigte mich die Arbeit nicht. Den unendlichen Strom von Worten, der ständig bei uns im Radio und in die Zeitungen floss, empfand ich als eine oberflächliche Flut. In dieser Zeit fehlte mir die Musik immer mehr. Als Studienziel schwankte ich damals zwischen Literatur, Jura und Musik und übte in meiner seltenen Freizeit Klavier.

Als ich vor 36 Jahren nach Deutschland kam, hatte jeder noch Angst, das Wort Jude auszusprechen. Es galt als Tabu. Heute ist alles viel offener.

Mein Vater kannte den israelischen Pianisten und Professor Arie Vardi, heute mein »hoher Kollege«. Wir baten ihn zu beurteilen, ob ich eine Chance als Musiker haben könnte. Nachdem ich ihm vorgespielt hatte, sagte er zu mir: »Du bist ein wunderbarer Musiker. Aber Pianist werden? Mit 21 Jahren? Dafür entscheiden sich andere als Zwölfjährige.« Doch als ich nach dem Gespräch ging und die Tür von Vardis Wohnung hinter mir schloss, wusste ich genau, dass ich Musik studieren wollte. Allerdings muss ich sagen: Heute würde ich einem jungen Aspiranten genau das Gleiche sagen wie er mir damals.

STUDIUM Der Winter 1984/85 in Deutschland war kalt und hart. Damals kam ich zum Musikstudium nach München. Alles war ungewohnt: die Temperaturen, das graue Wetter, die Mentalität der Menschen, die Sprache. Davor hatte ich meinen Bachelor in drei Jahren an der Rubin-Akademie in Jerusalem absolviert. Parallel zur journalistischen Arbeit. Sogar Musikkritiken habe ich damals geschrieben. Ich wusste bald: Ich muss das Land verlassen, um mich nur noch auf die Musik und das Klavier zu konzentrieren.

In Jerusalem hat mich damals der weltberühmte Pianist Alfred Brendel gehört. Nicht zuletzt dank seiner enthusiastischen Empfehlung bekam ich Stipendien in München und Salzburg. Nach Deutschland wollte ich, weil ich es im Vergleich zu den USA, wo ich mich als Jugendlicher einige Monate aufhielt, mit mehr kultureller Tiefe verband. Die Klassik ist in Deutschland verwurzelt, und schon damals glaubte ich, dass die deutsche Sprache zu ihrem wahren Verstehen nötig ist.

Aber auch die Geschichte meiner Familie spielte eine Rolle. Meine Großeltern waren zwar lange vor dem Krieg nach Israel emigriert, aber viele Verwandte wurden ermordet. Dieser Schmerz war immer da in meiner Familie, er saß tief, aber auch sehr tief versteckt. Er war da als Trauer, aber nicht als Hass. Nicht so, wie Kinder damals in Israel noch erzogen wurden: mit Deutschland als Feindbild. Ich kam zunächst für einige Wochen nach Deutschland, um zu schauen, ob ich hier atmen kann. Schnell traf ich einige Menschen, die bis heute meine engsten Freunde sind.

SCHOCK Die erste Zeit in München und Salzburg war für mich ein Schock: Ich merkte, wie toll die anderen jungen Pianisten waren. Erst jetzt, mit 24 Jahren, fing ich an, so zu ackern, wie das die meisten Musik-Wunderkinder schon mit vier Jahren tun. Danach musste ich mich als Konzertpianist praktisch alleine durchsetzen. Und doch entwickelte sich ganz schnell das, was man eine Karriere nennt. Zehn Jahre lang, bis ich 38 war, hatte ich gut, manchmal fast zu viel zu tun mit Konzerten und Aufnahmen. Rückblickend war ich sehr erfolgreich, aber dieses Leben als freischaffender Künstler ist stets unsicher und wacklig.

Heute macht es die Corona-Krise klarer denn je. Deshalb war ich froh, als ich meine erste Professur in Dortmund bekam. Dort habe ich meine Frau Beate kennengelernt, eine Opernsängerin, die auch Musiktherapeutin und Gesangspädagogin ist. Als sie schwanger war, kamen wir nach Freiburg, wo ich meine jetzige Professur bekam. Hier wurden unsere Kinder geboren. Wir haben uns in Freiburg schnell wohlgefühlt. Manchmal vermisse ich die Großstadtatmosphäre, aber ich reise viel, bin oft in Ostasien, Tel Aviv, den USA und in den Großstädten Europas.

Israel vermisse ich bis heute. Es war nie geplant, dass ich immer in Deutschland bleibe, doch hier gelangen mir meine beruflichen Anfänge, und dann wuchs die Verbundenheit.

Als ich vor 36 Jahren nach Deutschland kam, hatte jeder noch Angst, das Wort Jude auszusprechen. Es galt als Tabu. Heute ist alles viel offener. Doch es hat auch erschreckende Nachteile, dass die Hemmungen verschwunden sind. Der Antisemitismus, der vermutlich immer nur unterdrückt war, zeigt sich jetzt wieder sehr heftig. Das beunruhigt mich sehr.

GLÜCK Israel vermisse ich bis heute. Es war nie geplant, dass ich immer in Deutschland bleibe, doch hier gelangen mir meine beruflichen Anfänge, und dann wuchs die Verbundenheit. Inzwischen fühle ich mich in Israel – nota bene als Jerusalemer! – vor allem in Tel Aviv zu Hause. Dort ist eine Insel von Offenheit, Vielfalt, Liberalität, Intellektualität und kritischem Denken.

Ich bin meist einige Male im Jahr in Israel. Die Landschaft, die Gerüche, Hebräisch in den Ohren und die Tatsache, dass Juden auf den Straßen sind – das alles ist für mich ein Glück. Doch manchmal springen mir schon nach wenigen Stunden die Spannungen ins Auge. Israel entwickelt sich seit Langem zu einer zerrissenen Gesellschaft mit religiösen und politischen Extremen.

Unsere führenden Politiker sind leider keine Vorbilder. Im Gegenteil. Und sie führen uns auf einem falschen Weg. Das ist nicht das Ideal, das meine Großeltern anstrebten, als sie das Land mitaufbauten. Diese Entwicklung bereitet mir große Sorgen.

TAGEBUCH Nein, ich bin nicht religiös, doch emotional und intellektuell bin ich stark mit jüdischen Quellen und Schriften verbunden. Genauso mit der Tradition, die wir in der Familie pflegen: Kiddusch freitagabends, Feiertage. Meine zwei Kinder haben viel Bezug zu Israel. Wir sprechen Hebräisch miteinander. Für meine Arbeit sind diese Themen wichtig.

In München stieß ich auf die jiddischen Gedichte von Abraham Sutzkever. Das hat etwas in mir in Bewegung gebracht: seine Lyrik in der Sprache meiner Großeltern, die ich nie sprach. Es entstand mein »Lider-Togbuch« für Klavier und Pianistenstimme, das ich 1998 uraufführte.

Seitdem habe ich immer weiter komponiert, und die Literatur spielt dabei eine große Rolle. Zum Beispiel in meinen »Hebräischen Balladen« nach Gedichten von Else Lasker-Schüler, oder »Di wajte Hajmat Majne« nach Gedichten von Marc Chagall. Ich habe auch Anne Michaels Roman Fluchtstücke aufgegriffen, und Paul Celan mit dem »Psalm«-Streichquartett, 2010 schrieb ich meine erste Oper, »Isaaks Jugend«.

Die Musik, die in meinem Kopf ständig spielt, ist ein Riesensammelsurium von Stilen, Gattungen und Ursprungsländern. Ebenso vielseitig ist meine eigene Musik. Hat vielleicht meine Klaviermusik für Kinder, »Mein Opa und ich«, »Meine Oma und ich«, »Mein verrückter Klavierlehrer«, irgendetwas mit Judentum zu tun? Ich glaube, gar nicht. Obwohl, wie man in Jiddisch sagt: Gej wajs.

Aufgezeichnet von Anja Bochtler

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