Geburtstag

Ein Jahrhundert-Zeuge

Albrecht Weinberg mit einem Familienfoto Foto: Shahar Azran/WJC

»So fing es an, als ich Kind war«, mahnte der Holocaust-Überlebende, der im ostfriesischen Leer lebt. »Wenn die Rechten erst einen Fuß in die Tür kriegen, kommt der ganze Körper hinterher.«

Am 7. März wird Albrecht Weinberg 100 Jahre alt. Er hat die Lager von Auschwitz, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen überlebt – und drei Todesmärsche. »Das ist seit 80 Jahren in meinem Kopf«, sagt er. »Ich brauche mich nur zu waschen, dann sehe ich meine Häftlingsnummer.« Heute ist er auch im Wortlaut ein Jahrhundert-Zeuge. Anlässlich seines Geburtstags plant die Stadt Leer einen Empfang zu seinen Ehren, ein paar Tage vorher hat sich Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) bei ihm angesagt. Auch die jüdische Gemeinde in Oldenburg plane eine Feier, erzählt er, ebenso wie das nach ihm benannte Albrecht-Weinberg-Gymnasium in seinem Geburtsort Rhauderfehn.

»Mit einem hundertjährigen Körper ist das nicht so einfach«, sagt Weinberg. Doch mit Ruhepausen zwischendurch werde es schon gehen. »Es zippt hier und da ein bisschen, aber im Großen und Ganzen bin ich ok.« Und sein Kopf sei wohl noch keine 100. »Der ist falsch eingeschraubt«, fügt er mit verschmitztem Humor an. Wie wach Weinberg und seine Erinnerungen sind, wird immer wieder deutlich, wenn er aus seinem Leben erzählt. Er gehört zu den ganz wenigen, die noch berichten können, wie in der NS-Diktatur die Ausgrenzung der Juden in Deutschland begann, an deren Ende die Ermordung von Millionen von Menschen stand.

Was als Ausgrenzung der Juden begann, endete in der Ermordung von Millionen von Menschen

»Wir waren Ostfriesen. Wir waren nichts anderes«, blickt der weißhaarige Mann mit dem schmalen Gesicht zurück auf seine Kindheit in Rhauderfehn. Sein Vater hatte für Deutschland im Ersten Weltkrieg gekämpft. Und doch wurde dieser nie zuerst mit seinem Vornamen Alfred angesprochen. Immer schickten sie zuerst »de Jööd« voran, plattdeutsch für »der Jude«. »Ich war elf, da haben sie mich von der Schule geworfen«, sagt Weinberg. Freunden wurde verboten, mit ihm zu spielen.

Albrecht Weinbergs Eltern wurden 1945 in Auschwitz ermordet. Dorthin verschleppten sie auch ihn, in einem Viehwaggon. »Ich weiß nicht, wie viele Tage wir unterwegs waren.« Bei ihrer Ankunft hörten sie Schreie: »Raus, raus«. Hunde bellten. »Wir wurden sortiert.« Dass diejenigen, die in eine andere Richtung gehen mussten als er selbst, in den Tod in den Gaskammern geschickt wurden, war ihm damals noch nicht bewusst.

»Wissen Sie, was ein Muselmann ist?«, fragt er. So hätten sie in Auschwitz diejenigen genannt, denen man angesehen habe, dass sie dem Tod näher gewesen seien als dem Leben. Als er am Ende seines Leidensweges im April 1945, nach drei Todesmärschen, aus dem niedersächsischen KZ Bergen-Belsen befreit wurde, sei er selbst ein »Muselmann« gewesen: »Ein Knochengerippe, mit Haut überzogen, zwischen den Gerippen von Bergen von Leichen.«

Nach der Befreiung Auswanderung mit der Schwester

Nach der Befreiung fand er seine Schwester Friedel wieder, die als eine der wenigen der Familie überlebt hatte. Gemeinsam wanderten sie nach Amerika aus. Dass er jemals wieder in Deutschland leben würde, war damals undenkbar für ihn. Und doch verschlug es die beiden Geschwister 2012 nach Leer, ganz in die Nähe ihres Geburtsortes.

Schon einige Jahre zuvor waren sie dort zu Besuch gewesen. Die Stadt wollte an den Bau der Synagoge 100 Jahre zuvor erinnern, die 1938 bei den Novemberpogromen zerstört wurde. Weil sie hofften, andere Überlebende zu treffen, nahmen Albrecht und Friedel Weinberg die Reise in Kauf. Die Kontakte, die sie in Leer knüpften, führten dazu, dass Albrecht ein Hilfsangebot annahm, nachdem Friedel einen Schlaganfall erlitten hatte. Beide zogen dorthin in ein Altenheim. Und die Pflegerin Gerda Dänekas bekam kurz vor ihrem Ruhestand den Auftrag, sich um sie zu kümmern – eine zupackende Frau, die sah, was die beiden brauchten.

Nach Friedels Tod nahm sie Albrecht mit zu sich. Erst zu Besuch, an den Wochenenden. »Mein inzwischen verstorbener Mann und die Kinder unterstützten das«, sagt sie. Als Weinberg in der Corona-Zeit im Heim völlig isoliert war, zog sie in eine größere Wohnung und gründete mit ihm eine WG. »Ich hab Schuld, dass du redest«, sagt sie rückblickend zu ihm. Das erste Mal überhaupt erzählte er 2013 einer Historikerin der Gedenkstätte Bergen-Belsen seine Lebensgeschichte. Seitdem sind Gerda Dänekas und er unzählige Male in Schulen unterwegs gewesen, zuletzt bei Lesungen aus einem Buch, das der Journalist Nicolas Büchse mit Weinberg geschrieben hat.

Senioren-WG

Die frühere Pflegerin ist Managerin und liebevolle Betreuerin in einem. Gemeinsam pflegen sie und Albrecht Weinberg Rituale. Seit er kaum noch sehen kann, liest sie ihm regelmäßig vor. »Immer geht es dabei um den Holocaust«, sagt sie. Doch es sind auch aktuelle Nachrichten, die ihn beunruhigen: Das Erstarken der Rechten ist dabei nur ein Beispiel. Mit ihm gemeinsam ist Dänekas nach New York gereist, nach Berlin, nach Auschwitz und nach Israel. »Ich bin froh, dass meine Enkel mit ihm aufwachsen dürfen«, sagt sie. »Das alleine ist es schon wert, dass ich mich um ihn kümmere.«

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Zum »Albrecht-Weinberg-Gymnasium« hat der Namensgeber ein enges Verhältnis und ist dort immer wieder zu Besuch. »Albrecht Weinberg ist für unsere Schule ein Vorbild und beeinflusst unseren Schulalltag täglich«, so erzählen es Schülerinnen und Schüler vom Sprecherrat. »Er redet gern mit uns über den Alltag, über das, was uns bewegt und über unsere Zukunft.« Dass die Schule seinen Namen trägt, sehen sie dort als Verpflichtung.

Und auch Weinberg selbst empfindet im hohen Alter noch Verpflichtungen. An den bevorstehenden Veranstaltungen zu den 80. Jahrestagen der Befreiung von Bergen-Belsen und Mittelbau-Dora wollen er und Gerda Dänekas teilnehmen, wie er betont: »Es ist hundertprozentig, dass die paar Überlebenden, die es noch gibt, versuchen, dabei zu sein.«

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