Dokumentation

»Duftendes Elysium«

Publizist, Schriftsteller und Laudator: Ralph Giordano Foto: dpa

Der Hamburger Stadtpark feiert am 5. Juli 100. Geburtstag. Ralph Giordano hat 91 Jahre dieser Zeitspanne von 1914 bis 2014 begleitet. In seiner Rede erinnert er an das wechselvolle Schicksal des »städtischen Kleinods«, mit dem sein ganzes Leben, besonders aber seine Kindheit und erste Jugend verbunden sind.

Der Stadtpark – das war der Mittelpunkt meiner Kindheit und frühen Jugend, nur wenig entfernt von unserem Barmbeker Domizil, Hufnerstraße 113 – erst im Kinderwagen, dann an der Hand des Vaters. Die spiegelnde Zärtlichkeit des Pinguin-Brunnens; die verträumte Liebesinsel am Zugang zum Goldbekkanal; das lärmumtoste Planschbecken; die Grazie der Tanzenden Mädchen; Diana auf der Hirschkuh; der Hockende Affe und – der Liegende Panther! Ganz ruhende Majestät, mit mächtigem Schädel, dreieckigen Augenhöhlen und dickem Schweif – ein gefährlicher Anblick.

Und der Schauplatz einer sich Jahr um Jahr wiederholenden Tragödie. Ständig flüsternd »Ei, du liebes Tier, ei, du gutes Tier«, rückte der Vater der steinernen Raubkatze immer tollkühner näher und näher, ja, streichelte sie schließlich sogar sanft. Aber nur, um ihr plötzlich ohne Vorwarnung mit der flachen Hand eine derbe Ohrfeige zu versetzen und dann, mit dem schlotternden Sohn im Arm, wie vor der Wut der getäuschten Großkatze in einen sicheren Abstand zu flüchten ...

elysium
Der Stadtpark – das war die schnatternde Nähe des Ententeichs; der wuchtige Wasserturm; das Plateau der Großen Festwiese; die vornehme Stadthalle – Atemnot und sprachverschlagende Bewunderung des kleinen Ralle inmitten eines blühenden und duftenden Elysiums.

Später dann, mit den Spielgefährten selbstständig geworden und auf eigenen Beinen, lieferten wir uns scharfe Auseinandersetzungen mit den Wärtern, alten Männern, denen wir ausgerissene Grassoden an den Kopf warfen und auch sonst das Leben schwermachten, Streiche, die ich hier schamvoll gestehe.

Nicht nur froh darüber, dass sie längst verjährt sind, sondern durch eigene Hand auch bitter bestraft wurden. Ich spreche von der Plünderung der wilden Apfelbäume – und das, bevor die kleine, ohnehin sehr saure Frucht reif war. Die Folgen der Gier: seltsam gekrümmte Gestalten die sich fluchend beide Hände vor den gepeinigten Bauch hielten. Ohne jedoch auch nur die kleinste Lehre aus der Tortur gezogen zu haben.

oberhäuptling
Einige Jahre war ich übrigens der gewählte Oberhäuptling einer grell bemalten Schar von Altersgenossen – mal als »Sitting Bull«, mal als »Tecumseh« oder »Pontiac« – berühmte Namen der amerikanischen Grenzgeschichte.
Der Stadtpark, noch einmal – das war die Sonne über einer makellos glücklichen Kindheit und ersten Jugend.

Aber es sollte dabei nicht bleiben. Da wir jedoch heute aus freudigem Anlass zusammengekommen sind, will ich bei den Schatten nur kurz verweilen, unterschlagen will ich sie nicht.
Im März 1938 bekam ich auf dem Johanneum einen Klassenlehrer, der wegen seines Stiernackens die »Speckrolle« genannt wurde – ein fanatischer Nazi und bekennender Antisemit. Er gab mir schlechte Zensuren in Latein und Griechisch, verdächtigte mich als »,Abgucker«, sonderte mich auf die hinterste Bank aus und übersah mich einfach.

Es war ein Kampf zwischen höchst ungleichen Kräften, mehr jedenfalls, als ein Fünfzehnjähriger zu ertragen vermochte. So kamen immer dunklere Gedanken nach Erlösung in mir auf. Dabei hatte ich mir angewöhnt, nach einem Ort zu suchen, an dem ein Mensch, wenn überhaupt, nur durch seinen Verwesungsgeruch aufgespürt werden würde. Schließlich fand ich solche Fläche – auf der Reitbahn des Stadtparks und seinen tiefen Sprunggräben.

speckrolle
Die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 gab den letzten Anstoß. Nach einer neuerlichen Attacke der Speckrolle gab ich auf. Nachts riss ich aus, erreichte die zu dieser Jahreszeit ungenutzte Sportstätte, warf mich in einen der Gräben und wollte dort verhungern, verdursten oder erfrieren.

Aber so kam es nicht. Vielmehr blieb ich trotz Hunger, Kälte und Erschöpfung schlaflos bei vollem Bewusstsein, doch weit widerstandsfähiger, als zu vermuten. Es würde die Grenzen dieser Festansprache sprengen, wenn ich die komplizierten
Zusammenhänge darlegte, wie ich in diesem nach oben offenen Sarg auf der Reitbahn des Stadtparks die körperliche und seelische Regie über mich selbst zurückgewann. Nur so viel: Es war die Verwandlung eines passiven Opfers in einen Überlebensaktivisten – eines von den großen Wundern in meiner Biografie.

Der zweite Schatten nach der wunderbaren Kindheitsouvertüre des Stadtparks hatte einen Namen: Regenbogen. So nannte ich sie, ihr bürgerlicher Name blieb ohne Belang, von Anfang an. Große Augen in einem kleinen Gesicht, die Figur gedrechselt, unsäglich lieblich, eine himmlische Begegnung, in der sich die ganze Seligkeit unserer Jugend sammelte.

regenbogen
Treffpunkt war unter den Platanen, jeden Tag, immer an derselben Stelle und stets in der Dunkelheit. Es dauerte lange, bis sie scheu, unterdrückt fragte: »Warum sehen wir uns immer nur im Finstern, und so spät? Warum?« Ich schwieg. Bis ich ihr eines Tages antwortete: »Weil ich eine jüdische Mutter habe – darum.«

Regenbogen hielt noch zwei Wochen aus, dann war ihre Kraft am Ende. Ich kannte den wohl etwas älteren, offensichtlich aber ahnungslosen Jungen nicht, mit dem sie an der gewohnten Stelle unserer Verabredungen unter den Platanen erschien, kurz an meinem Buschversteck verharrte, als wollte sie es sich noch einmal überlegen, und dann mit ihm verschwand.

Hinter sich stumme Verzweiflung, hilflose Auflehnung, abgebrochene Sätze und – Tränen. Tränen, wie sie nur mit 16 fließen können. Obwohl ich sofort erkannt hatte, welche Gewalttat Regenbogen soeben auch gegen die eigene Person begangen hatte – hier waren Kräfte im Spiel, gegen die die Liebe dieser verlorenen beiden Menschenkinder weniger als ein Lufthauch war. Der Stadtpark aber war für mich der zweite Schauplatz eines großen persönlichen Schmerzes geworden.
Geschont hat die Geschichte den Stadtpark nicht – »Operation Gomorrha« ...

luftkrieg
Kennwort für vier schwere Angriffe der britischen Royal Airforce zwischen dem 24. Juli und dem 3. August 1943, Beginn eines neues Zeitalters des Luftkrieges – Hamburg ein Hochofen, der Stadtpark in Flammen! Wie unsere Wohnung auch, in der dritten, der Nacht vom 29. auf den 30. Juli – diesmal klinkten die Bomber ihre Hauptlast über Barmbek aus.

Es dauerte Stunden, bis wir über die kurze Strecke von der Hufnerstraße über den Rübenkamp und die Hellbrookstraße den Rand des Stadtparks erreicht hatten, wo die glühenden Häuserblocks sich lichteten. Vorbei an Bombentrichtern, die sich rasch mit Wasser füllten, und an Feuerzungen, die wie lebende Drachen nach uns herüberleckten. Die Stadthalle, ein qualmender Schutthaufen; der Stadtpark-See wie in Nebel gehüllt; die schwere Flakbatterie auf der großen Wiese längst verstummt; und der Wasserturm rauchumhüllt. Über allem aber die Sonne, wie ein blindes, eitriges Auge an einem bösartigen Himmel.

Dieses Bild vom Stadtpark hat sich lange, sehr lange in mir erhalten, ein von der Geschichte und von persönlich höchst entgegengesetzten Erinnerungen tief aufgerauhter Flecken Erde.
Doch obwohl selbst schwer bedroht, durch Spreng- und Brandbomben getötet oder verstümmelt zu werden – wir vergaßen keine Minute, keine Sekunde, dass die Piloten und Bordschützen da oben unsere Befreier waren, die auch für uns ihr Leben riskierten.

bittrufe
Unvergessen meine flehentlichen Bittrufe nach oben, wenn sich eine Maschine in den Lichtbündeln der feindlichen Scheinwerfer verfangen hatte: »Scher aus und komm herab, komm herab und nimm uns mit von der allmächtigen Angst vor dem jederzeit möglichen Gewalttod – nimm uns mit!«
Was wir damals nicht wussten – die furchtbarsten Monate lagen noch vor uns, 22, bis zum Verlassen unseres kellerdunklen, rattenverseuchten Verlieses in Alsterdorf durch die Kapitulation Hamburgs am 4. Mai 1945.

Und heute? Wir können jubeln: 1914–2014 – heute feiert der Stadtpark seinen 100. Geburtstag! Ein erhabenes Jubiläum, dem ich selbst mich inzwischen nun bis auf neun Jahre genähert habe. Mir wird ganz feierlich zumute, wenn ich sehe, was nimmermüde Hände und liebende Sinne aus dem Jubilar gemacht haben – eine Kulturtat sondergleichen! (...) Was sich hier an ehrenamtlicher Bereitschaft, botanischem und biologischem Sachverstand für Flora und Fauna präsentiert, ist einfach staunenswert.

Herausgekommen ist dabei ein städtisches Kleinod, für das man seinen Schöpferinnen und Schöpfern nur dankbar sein kann. Dass sich dahinter auch ein starker Bürgersinn entdecken lässt, ist wie ein zusätzliches Geschenk. Da schmerzt es denn umso mehr, »Wenn rohe Kräfte sinnlos walten«, wie sie sichtbar werden an dem geschändeten und bestohlenen Pinguin-Brunnen oder an der Missachtung fremden Eigentums durch die Plage der Graffiti-Helden. Triumphiert aber hat die Zerstörung nicht. Wer den Stadtpark kartografisch vor sich hat, entdeckt eine volksverbundene Erholungsstätte, die mit Fug und Recht klassisch genannt werden kann. (...)

Für mich sind Stadtpark und Hamburg über ein ganzes Leben hin Synonyme, eine Verwandtschaft, der anzugehören ich stolz bin.

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