Porträt der Woche

Die Kulturdolmetscherin

»Wie es für mich weitergehen soll, wenn die israelischen Touristen wegbleiben, weiß ich nicht«: Leah Hercher-Scemama (59) aus Berlin Foto: Alicia Rust

Porträt der Woche

Die Kulturdolmetscherin

Leah Hercher-Scemama ist Fremdenführerin – und sucht neue Möglichkeiten

von Alicia Rust  04.05.2024 22:48 Uhr

Wenn ich Besuchern aus Israel vermitteln möchte, was Berlin ausmacht, bringe ich sie zunächst einmal zum Treptower Park zum russischen Mahnmal. Anschließend geht es zur East Side Gallery nach Friedrichshain, dann zum Alexanderplatz, Unter den Linden, auf die Museumsinsel, den Bebelplatz, an den Checkpoint Charlie, zum Holocaust-Mahnmal, zum Brandenburger Tor und ins Regierungsviertel. Zwischendurch gibt es Pausen, um die kulinarischen Angebote zu genießen. An den Abenden geht es manchmal durch Bars und die spannende Welt der Berliner Restaurantszene.

Eines meiner wichtigsten Themen ist die lebendige Vermittlung der deutschen Geschichte und Kultur für Israelis. Die Vergangenheit, die Gegenwart, auch die Perspektiven für die Zukunft. Dafür lese ich viel und bilde mich ständig fort. Jeden Abend schaue ich drei Nachrichtensendungen, die Tagesschau, CNN und natürlich die israelischen Nachrichten.

Touren in hebräischer Sprache

Als Fremdenführerin betrachte ich mich als eine Art Kulturdolmetscherin. Alle meine Touren finden in hebräischer Sprache statt, manchmal auch auf Deutsch. Und wenn die Besucher dann das Flugzeug besteigen, das sie nach Hause bringt, sagen die meisten: »Wir kommen wieder!«

Seit 15 Jahren bin ich als Fremdenführerin in Berlin unterwegs, in den besten Zeiten hatte ich zehn Angestellte und ein großes Büro, denn wir waren ziemlich gut gebucht. Wir hatten größere und kleinere Angebote in unserem Portfolio. In der Regel dauert eine Stadtrundfahrt vier Stunden.

Der 7. Oktober hat alles verändert. Mein Unternehmen ist eingebrochen. Stillstand.

Covid habe ich beruflich noch ohne große Blessuren überstanden, doch seit den Anschlägen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat sich alles verändert. Seitdem ist nichts mehr wie zuvor, mein Unternehmen ist von heute auf morgen eingebrochen. Absoluter Stillstand. Die Reisegruppen aus Israel bleiben aus.

Geboren wurde ich 1965 in Israel in Beer Sheva. Mit 17 habe ich Abitur gemacht, anschließend war ich zwei Jahre bei der Armee, in der Luftwaffe, und habe danach eine Ausbildung zur Reisekauffrau gemacht. Dann lernte ich meinen künftigen Mann kennen, einen deutschen Regisseur mit jüdischen Wurzeln. Nach vielen tiefsinnigen Gesprächen verliebten wir uns ineinander, und nachdem unsere gemeinsame Tochter ein Jahr alt war, folgte ich ihm nach Deutschland. Das ist 30 Jahre her.

Damals tauchte ich von jetzt auf gleich in ein völlig neues Leben ein, ich sprach kein Wort Deutsch. In Köln besuchte ich eine private Sprachschule, fünf Stunden pro Tag büffelte ich Deutsch, und nebenbei unterrichtete ich Hebräisch in der Kölner jüdischen Gemeinde. Einmal pro Woche fuhr ich nach Andernach, um ganz normale deutsche Erwachsene in der hebräischen Sprache zu unterrichten. Wir hatten eine tolle Gruppe, und es machte mir viel Spaß. Parallel dazu begann ich, an der Uni Köln und in Bonn Kunstgeschichte, Religionswissenschaft und Judaistik zu studieren.

Teil der Geschichte sein

Nach unserer Trennung blieben mein Ex-Mann und ich beste Freunde. Ich finde es sehr wichtig, dass Menschen, die ein gemeinsames Kind in die Welt gesetzt haben, auch dem Kind zuliebe verbunden bleiben und respektvoll miteinander umgehen. Warum Berlin? Ich lebe nun schon seit 20 Jahren in dieser außergewöhnlichen, sich ständig wandelnden Stadt mit ihren ungewöhnlichen Menschen, und ich wollte Teil dieser Geschichte sein und im besten Falle diese auch vermitteln.

Vor ungefähr 20 Jahren kam der Trend auf, dass Israelis zunehmend Berlin besuchten, ausgelöst durch die Jeckes aus Nahariya, Haifa und Jerusalem. So begann ich, ein Konzept zu entwickeln. Dass meine kleine Reiseagentur dann so ein Erfolg werden würde, hat mich überrascht. In den vergangenen 15 Jahren habe ich von Gruppen zwischen fünf und 300 Leuten alles betreut. Dabei war mir wichtig, mich nie nur auf die Vergangenheit zu beschränken, sondern auch das Leben im Hier und Jetzt zu vermitteln.

Jedes Mal sind die Besucher erstaunt und beeindruckt, wie sehr sich die Deutschen mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, es gibt so viele Mahnmale für den Holocaust in der Stadt, auch die Stolpersteine sind wichtige Markierungen. Und ein neues jüdisches Leben war – jedenfalls bis vor Kurzem – wieder sichtbar.

Ich stamme aus einer säkularen jüdischen Familie. Meine Mutter Vivian Kadusch kommt aus einer jüdischen Familie aus Algerien, aus einer Stadt in der Nähe von Oran, später ist die Familie mit ihren sieben Kindern nach Paris geflüchtet. Sie waren wohlhabend, aber nicht sonderlich religiös. Während des Holocausts musste meine Mutter, die heute 84 Jahre alt ist und in Israel lebt, mit ihrer Familie in einem Lager arbeiten. Heute erhält sie dafür noch eine kleine Rente, sie spricht nicht viel darüber.

Ein Herz aus Gold

Mein Vater Amos Scemama stammt aus einer eher religiösen jüdischen Familie aus Tunesien, auch er wurde während der Schoa mitsamt seiner Familie in Nordafrika in ein Arbeitslager gesteckt. Als sie sich in Ofakim, in Israels Südbezirk, begegneten, wo meine 18-jährige Mutter damals ihren Bruder besuchte, war es um die beiden geschehen. Erst vor zwei Jahren ist mein Vater gestorben. Von außen betrachtet, wirkte er verschlossen, aber er war liebevoll und hatte ein Herz aus Gold.

Neben meiner Mutter leben noch meine drei Geschwister in Israel: zwei Brüder, eine Schwester und natürlich ihre Kinder. Zwei von ihnen sind zurzeit in der Armee. Erst vor Kurzem war ich mit meiner inzwischen erwachsenen Tochter in der alten Heimat: Das Land steht unter Schock, die Menschen befinden sich in tiefer Trauer. Auch für meine Familie und unsere Freunde war der 7. Oktober ein sehr tiefer Einschnitt. Ursprünglich wollte mein Bruder seinen Lebensabend in seinem eigenen kleinen Hotel in Ramot Naftali im Norden Israels verbringen. Doch heute ist das Haus durch die Armee gesperrt, sein Lebenstraum ist somit geplatzt.

Als wir noch Kinder waren, verbrachten wir fast jeden Samstag mit unseren Eltern am Strand von Aschkelon, anschließend fuhren wir nach Gaza, um dort gegrillten Fisch zu essen. Wir lebten ja nur 70 Kilometer von da entfernt. Einmal ließ uns mein Vater im Auto zurück, um mit jemandem zu reden, da kamen israelische Militärs und bedeuteten uns, die Fenster zu verhängen, wir befänden uns in Gefahr. Da habe ich gemerkt, irgendetwas hatte sich verändert – ich war 14 Jahre alt. Bis dahin waren jüdisch-arabische Freundschaften ganz normal für uns. Von den fünf besten Freunden meines Vaters waren drei Palästinenser.

Wie es jetzt für mich weitergehen soll, da die Touristen aus Israel ausbleiben, weiß ich noch nicht. Während der Covid-Zeit habe ich mir ein Fahrrad gekauft und ausgedehnte Touren durch Berlin und ins Umland unternommen, bis ins tiefste Brandenburg bin ich geradelt, das ich sehr liebe: Ketzin, Großkreuz an der Havel, Werder, alles wunderschöne Orte mit einer Geschichte, die es zu erzählen lohnt.

Ich muss zugeben, dass ich inzwischen Angst habe, mich in öffentlichen Verkehrsmitteln auf Hebräisch zu unterhalten.

Wenn mich Menschen fragen, ob ich Fremdenhass oder Antisemitismus erlebt habe, muss ich sagen: bislang nicht. Doch muss ich auch zugeben, dass ich inzwischen Angst habe, mich in öffentlichen Verkehrsmitteln auf Hebräisch zu unterhalten, und ich habe meiner Tochter auch geraten, nicht mehr ihre Kette mit dem Magen David sichtbar zu tragen.

Kinder und Jugendliche sind für mich stets mit Hoffnung verbunden. Sie sind noch offen, neugierig und machen sich ihre eigenen Gedanken. Deshalb überlege ich, auch historische Führungen für Schulen anzubieten: jüdisches Leben in Berlin, von einer Jüdin mit israelischem Hintergrund vermittelt, die schon lange hier lebt. Das ist bislang nur eine Idee.

Unterricht vor Ort

Manchmal sagen Freunde zu mir, ich sei ein wandelndes Geschichtsbuch. Ich unterrichte halt am liebsten vor Ort. Was die Zukunft bringt, weiß ich nicht. Überall auf der Welt brennt es. Nach den Anschlägen am 7. Oktober habe ich in Berlin erst einmal Plakate für die von der Hamas entführten Israelis aufgehängt, von denen immer noch viele im Gazastreifen festgehalten werden.

Neben Kriegen und Konflikten haben wir Themen wie den Klimawandel oder wachsende Ressentiments gegenüber Gruppen jedweder Art. Diesen negativen Strömungen möchte ich etwas Positives entgegensetzen, und zwar durch Bildung und Aufklärung. Vielleicht gelingt das am besten, wenn wir in unserer eigenen Nachbarschaft damit beginnen.

Aufgezeichnet von Alicia Rust

Teilnehmer des Mitzvah Day 2016 in Berlin

Tikkun Olam

»Ein Licht für die Welt«

Der Mitzvah Day 2025 brachte bundesweit Gemeinden, Gruppen und Freiwillige zu mehr als 150 Projekten zusammen

 23.11.2025

München

Nicht zu überhören

Klare Botschaften und eindrucksvolle Musik: Die 39. Jüdischen Kulturtage sind eröffnet

von Esther Martel  23.11.2025

Berlin

Gegen den Strom

Wie der Ruderklub »Welle-Poseidon« in der NS-Zeit Widerstand leistete und bis heute Verbindung zu Nachfahren seiner jüdischen Mitglieder pflegt

von Alicia Rust  23.11.2025

Porträt

Glücklich über die Befreiung

Yael Front ist Dirigentin, Sängerin, Komponistin und engagierte sich für die Geiseln

von Alicia Rust  22.11.2025

Berufung

Schau mal, wer da hämmert

Sie reparieren, organisieren, helfen – und hören zu: Hausmeister von Gemeinden erzählen, warum ihre Arbeit als »gute Seelen« weit mehr ist als ein Job

von Christine Schmitt  21.11.2025

Mitzvah Day

Im Handumdrehen

Schon vor dem eigentlichen Tag der guten Taten halfen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentralrats bei der Berliner Tafel, Lebensmittel zu prüfen

von Sören Kittel  20.11.2025

Interview

»Selbst vielen Juden ist unsere Kultur unbekannt«

Ihre Familien kommen aus Marokko, Libyen, Irak und Aserbaidschan. Was beschäftigt Misrachim in Deutschland? Ein Gespräch über vergessene Vertreibungsgeschichten, sefardische Synagogen und orientalische Gewürze

von Joshua Schultheis, Mascha Malburg  20.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

Berlin

450 Einsatzkräfte schützen jüdische Einrichtungen

Zudem seien im laufenden Jahr zwei Millionen Euro in bauliche Sicherheitsleistungen für jüdische Einrichtungen investiert worden sowie 1,5 Millionen Euro in mobile Sicherheitsleistungen für jüdische Gemeindeeinrichtungen

 19.11.2025