Potsdam

Beten in der Platte

Freitagabend, Schlosstraße 1 in Potsdam Mitte. Im grauen Bürohaus unweit der Baustelle für das Stadtschloss ist die Wochenendruhe eingetreten. Nur im ersten Stockwerk des wuchtigen Plattenbaus brennt Licht, klingen Gesang und Gebete durch die großen Fenster. Hier hat die Jüdische Gemeinde Potsdam seit Jahren ihre Räume, und hier trifft man sich zu allen Schabbat-Gottesdiensten. Ein ausgedienter Unterrichtsraum mit Neonbeleuchtung, ehemaligen Schulbänken, Aron HaKodesch und einer einfach gestalteten Bima dienen als Provisorium. Mikhail Tkach, der stellvertretende Gemeindevorsitzende, sieht das eher gelassen. »Wir sind sehr dankbar, dass wir solche Räume übergangsweise bis zur Synagogeneröffnung nutzen können. Wenn die Stimmung gut ist, dann lächeln auch die Wände.«

Gastrabbiner Beim Kabbalat Schabbat bleibt diesmal kein einziger Stuhl leer. Zu Gast ist der Duisburger Rabbiner Yaacov Zinvirt, der seinen Urlaub im benachbarten Berlin verbringt. Auf Anfrage hat er spontan entschieden, in der Schlossstraße ein ganzes Wochenende die Gottesdienste zu leiten – kostenlos. Der freundliche Mittvierziger mit israelischem Akzent ist bekannt für seine sonore Gesangsstimme. Er spricht wenig Russisch, doch schnell sind die Berührungsängste überwunden. Gemeinsam mit dem 86-jährigen Izrails-Davids Pitels, einem aus Lettland stammenden Vorbeter, führt er die mit russischsprachigen Sidurim ausgerüsteten Besucher durch den Abend.

Pitels spricht die verschiedensten Sprachen. Hebräisch und Jiddisch hat er in seiner Heimatstadt Daugavpils noch in den 30er-Jahren gelernt. Seine Frömmigkeit erhielt sich der heutige Pensionär durch die gesamte Sowjetzeit hindurch, unbeirrt von der religionsfeindlichen Politik des Regimes. So kämpfte Pitels als junger Mann während des Zweiten Weltkrieges an vorderster Front und erlitt Verwundungen. Doch wird ihm nachgesagt, dass er selbst als ranghoher Sowjetoffizier stets einen Tallit griffbereit bei sich führte. In Potsdam zählt der Veteran zu den aktivsten Gabbaim. Häufig konsultieren ihn Freunde und Bekannte in theologischen wie liturgischen Fragen.

Getragen singen er und Rabbiner Zinvirt das Lecha Dodi, später beten sie die Amida. Selbst wenn nicht jeder Ton präzise getroffen wird, stimmen die Beter schwungvoll ein. Beim Kiddusch, den Pitels zur Jahrzeit seiner Schwester Dina Bat Yosef mitfinanziert, wird die Musikalität des Rabbiners nochmals ausgiebig gefordert. Dann erzählt Pitels aus seinem Leben. »Unsere Leute sind durstig nach Melodien, Gesprächen, und Inspiration«, sagt Mikhail Tkach. Mehrmals wöchentlich ist der einstige Kiewer Ingenieur in der Schlosstraße zu finden, berät Neuzuwanderer und Neumitglieder, kümmert sich um Übersetzungen, telefoniert mit Behörden und koordiniert Veranstaltungen.

Ehrenamt Fast die gesamte Arbeit in der Schlossstraße läuft ehrenamtlich, bei einer Mitgliederzahl von rund 400 Personen kein Zuckerlecken. »Die vergangenen Monate waren für uns nicht gerade einfach«, bemerkt Tkach. »Erst bekamen wir massive Kritik am geplanten Synagogenbau. Dann verließen die Hauptkritiker die Gemeinde, und mit ihnen auch der Rabbiner.« Aber gerade in dieser kritischen Zeit ist die Gemeinde gereift, innerlich sogar stärker geworden, ist sich das Vorstandsmitglied sicher. »Wir haben eine Reihe von Neueintritten, was uns natürlich sehr freut.« Seit Pessach kommt kontinuierliche Unterstützung durch das Hildersheimersche Rabbinerseminar Berlin, das regelmäßig seine Studenten zur Gottesdienstgestaltung an die Havel schickt. Einer der Berliner Absolventen, Shlomo Afanasev, wird ab Herbst als Rabbiner in Potsdam arbeiten.

Samstag 9 Uhr, Schacharit. Wiederum werden die Sitzplätze in der Schlossstraße knapp. Eine weiße Stoff-Mechiza im hinteren Saalteil zeigt an, dass die Gemeinde sich dem orthodoxen Ritus verpflichtet fühlt. Zur Tora werden an diesem Morgen auch einige Teenager aufgerufen. David Siwerzew (14) kam vor acht Jahren mit seinen Eltern aus Moskau nach Potsdam. Gemeinsam mit dem Vater besucht er häufig den Kabbalat Schabbat. Literatur ist sein Hobby, in der Gemeinde kann er die Bibliothek nutzen, doch ein Jugendzentrum ist hier noch Zukunftsmusik.

Bildung Margarita Antonova, die gern bei der Vorbereitung der Kidduschim hilft, freut sich auf die neue Synagoge und die künftige Konzerte mit Kantoren und jüdischen Chören, die dann möglich sein werden. »Egal, ob sie aus Deutschland, Israel oder Russland kommen. Musik verbindet uns alle, und die jiddische Sprache erwacht wieder.« Beim Samstags-Kiddusch wird eine neue Reihe von Bildungsveranstaltungen diskutiert. Einigkeit herrscht darüber, dass auch Potsdamer Juden mit wenig religiösem Bezug willkommen sind. »Wir wollen die Menschen dort abholen, wo sie gerade stehen«, sagt Michael Tkach. Rabbiner Zinvirt pflichtet ihm bei und betont beim Abschied: »In dieser Gemeinde steckt ein enormes Potenzial. Man muss es nur entdecken und aktivieren.«

Berlin

Unter die Haut

Der Künstler Gabriel Wolff malt, formt und tätowiert »jüdische Identität

von Alicia Rust  15.06.2025

Porträt der Woche

Zwischen den Welten

Ruth Peiser aus Berlin war Goldschmiedin, arbeitete bei einer Airline und jobbt nun in einer Boutique

von Gerhard Haase-Hindenberg  15.06.2025

Berlin

»Drastisch und unverhältnismäßig«

Die Jüdische Gemeinde erhöht die Gebühren ab September deutlich. Betroffene Eltern wehren sich mit einer Petition

von Christine Schmitt  12.06.2025

Hamburg

Kafka trifft auf die Realität in Tel Aviv

Ob Krimi, Drama oder Doku – die fünften Jüdischen Filmtage beleuchten hochaktuelle Themen

von Helmut Kuhn  12.06.2025

Weimar

Yiddish Summer blickt auf 25 Jahre Kulturvermittlung zurück

Zwischen dem 12. Juli und 17. August biete die internationale Sommerschule für jiddische Musik, Sprache und Kultur in Weimar diesmal insgesamt über 100 Programmbausteine an

von Matthias Thüsing  11.06.2025

Sachsen

Verdienstorden für Leipziger Küf Kaufmann

Seit vielen Jahren setze er sich für den interreligiösen Dialog und den interkulturellen Austausch von Menschen unterschiedlicher Herkunft ein

 11.06.2025

Oldenburg

Brandanschlag auf Synagoge: Beschuldigter bittet um Entschuldigung

Am 5. April 2024 war ein Brandsatz gegen die massive Tür des jüdischen Gebetshauses in der Leo-Trepp-Straße geworfen worden

 11.06.2025

Erinnerung

731 Schulen erinnern an Anne Frank

Der Aktionstag findet seit 2017 jährlich am 12. Juni, dem Geburtstag des Holocaust-Opfers Anne Frank (1929-1945), statt

 11.06.2025

Grand Schabbaton

Eine 260-köpfige Familie

In Potsdam brachte der»Bund traditioneller Juden« mehrere Generationen zusammen

von Mascha Malburg  11.06.2025