Trauer

»Tröstet, tröstet mein Volk«

Auch zwischen Geschwistern helfen Trostworte, den Schmerz zu lindern. Foto: Thinkstock

Die Haftara, die Lesung aus dem Propheten, gibt diesem Schabbat einen besonderen Namen: »Schabbat Nachamu« (deutsch: Schabbat der Trostworte). Sie wird stets am Schabbat nach dem Trauertag Tischa beAw gelesen. Er ist der Gedenk- und Fastentag, an dem wir der Zerstörung des ersten und zweiten Tempels im alten Jerusalem gedenken.

Das jüdische Volk hat eine lang währende Erinnerung – auch ohne monumentale Denkmäler. In den Herzen eines jeden Juden ist die Stadt Jerusalem tief verwurzelt. Dies drückt bis heute folgendes Psalmwort aus: »Wenn ich dich vergessen sollte, Jerusalem, verdorre meine Rechte« (137,5).

Jerusalem konnte und kann gar nicht vergessen werden. Seit der biblischen Zeit wenden sich fromme Juden in aller Welt dreimal am Tag während der Gebete in Richtung Jerusalem. In vielen Häusern und Synagogen erinnert eine ungetünchte Stelle an der Ostwand oder eine sogenannte Misrach-Tafel, die die östliche Richtung anzeigt, an diese Ewige Stadt der Juden.

Schmerz Nach dem Schmerz um die Zerstörung Jerusalems werden die Worte des Propheten Jesaja als trostreich angenommen: »Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer G’tt. Redet Jerusalem freundlich zu und verkündet der Stadt, dass erfüllt ist ihre Leidenszeit, dass ihre Schuld beglichen ist, denn sie hat Zweifaches empfangen aus der Hand des Herrn für alle ihre Fehler« (40, 1–2).

Ein bekannter Gelehrter wies auf die Gründe für die Verdoppelung der Anfangsworte hin: »Tröstet, tröstet mein Volk«. Sie sollen unsere Aufmerksamkeit auf die Prozesse der Erlösung Israels lenken. Die Rabbinen meinen, dass die Erlösung in der Hand G’ttes ruht. Er kann sie vorverlegen, oder wenn Er dies will, auch verschieben. Die rabbinische Exegese findet den Schlüssel zu dieser Vorstellung in einem weiteren Vers des Propheten Jesaja: »Ich, der Herr, werde die Erlösung zu ihrer Zeit eilends ausführen«, das heißt: beschleunigen (60,22).

Der Talmud (Sanhedrin 98a) meint hier zunächst einen Widerspruch zu entdecken: Wann sollten wir die Erlösung erwarten? Schnellstmöglich, das heißt, »beschleunigt« von der Gnade des Herrn, oder aber »zu ihrer Zeit«, was eine lange Wartezeit voraussetzt?

Die Antwort lautet: Wenn sich die Israeliten verdient gemacht haben, so könnte der Herr sein Werk beschleunigen. Sollten die Israeliten es nicht verdient haben, käme die Erlösung »zu ihrer Zeit«, also später. Im vorangegangenen Dialog der Talmudgelehrten über den möglichen Zeitpunkt der Erlösung wurde – wieder aufgrund eines Jesaja-Verses – auch darauf hingewiesen: »Jerusalem wird, ebenso wie seine Heimkehrenden, nur durch Gerechtigkeit erlöst werden« (1,25).

Die Kommentatoren ergänzen diesen Satz mit folgender Aussage: Gerechtigkeit wird walten, wenn es keine Hochmütigen mehr gibt – und auch keine wankelmütigen Richter mehr.

Sehnsucht Die Bezeichnung und die Sehnsucht nach Trost mit »Schabbat (jiddisch: Schabbos) Nachamu« fand auch ihren Weg in die Weltliteratur. Unter diesem Titel schrieb Isaak Babel im Jahre 1918 eine kurze volkstümliche Erzählung. Der Autor, dessen Band Die Reiterarmee auch ins Deutsche übersetzt wurde, ist es würdig, dass wir seiner hier gedenken.

Er wurde Ende des 19. Jahrhunderts in der Hafenstadt Odessa, einem bedeutenden Zentrum ostjüdischer Kultur, geboren. Er stammte aus einer frommen Familie und wurde bald zu einem anerkannten, humorvollen, ironischen Chronisten des Lebens der unterdrückten, armen jüdischen Arbeiter und Handwerker.

1939 wurde Babel von den stalinistischen Schergen des NKWD verhaftet. »Abgeholt«, wie damals diese Aktion nur flüsternd genannt werden durfte. 1940 wurde er ohne Prozess hingerichtet, ermordet. Dies erfuhr selbst seine Witwe erst 15 Jahre später.

Wenn ich jetzt eine seiner typischen Kurzgeschichten nacherzähle und erläutere, so möchte ich ihm damit ein bescheidenes Denkmal setzen: »Herschele und seine Frau gehörten zu den ärmsten Juden ihrer Stadt. Andere Juden hatten am Schabbat wenigstens etwas Wein, Wodka, Gefilte Fisch oder Rosinenchalla. Nicht so Herscheles Familie. Sie saß häufig auch am Schabbat im Dunklen und hungerte. Was Wunder, dass die Frau ihm bittere Vorwürfe machte und harte Schimpfworte an den Kopf warf.

Eines Tages beschloss Herschele, zum berühmten Zaddik, dem Meister der Chassidim, Rabbi Boruchl, zu pilgern. Vielleicht konnte der heilige Mann die Not lindern.

Während seiner langen Wanderung gelangte er an einen Gasthof am Rande eines Dorfes. Er sah noch Licht, klopfte an. Herschele fand die Besitzerin ohne ihren Mann im Hause. Der Wirt musste zum adeligen Herrn, zum ›Pane‹, um die Pacht zu entrichten.

So begann die einfache Wirtsfrau ein Gespräch mit dem weitgereisten Gast. ›Du bist bestimmt ein gelehrter Jude und weißt, wann kommt Schabbos Nachamu?‹ – ›Ich frage deshalb‹, setzte die Frau fort, ›weil mein Mann versprach, dass wir nach Schabbos Nachamu zum Einkaufen in die Stadt fahren werden, und da werden wir auch den Segen des Motalemer Rebben holen. Er kann Wunder bewirken, die wir benötigen, da wir noch immer keine Kinder haben. Weißt du nicht, woher kommt Schabbos Nachamu?‹

Herschele roch die feinen Speisen aus der Küche und antwortete gewagt: ›Ich bin der Schabbos Nachamu, gute Frau, du wirst Söhne und Töchter haben. Ich bin auch deinetwegen unterwegs. Wir haben es aber schwer da oben. Die Verpflegung im Jenseits lässt viel zu wünschen übrig.‹

Darauf versorgte die herzensgute, einfältige Dorfwirtin den bedeutenden Gast mit allem, was ihre Küche hergab. Nach dem Essen hatte es Herschele sehr eilig. Jedoch vergaß er nicht, die dicken Säcke mit Reiseproviant und Geschenken mitzunehmen. Er fürchtete, dass der Wirt, wenn er heimkehrt, ihn bestimmt nicht als Herrn Schabbos Nachamu empfangen würde. Also lief er, so schnell er konnte, und war erleichtert, als er wieder bei den Seinigen war.

Diesmal schimpfte seine Frau nicht. Im Gegenteil. Sie segnete inbrünstig Reb Boruchl, der auch für das leibliche Wohl der armen Familien sorgt. Nicht so wie ihr Mann, der so unbeholfen ist und die Seinigen nur mit Geschichten füttern kann.

Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Wa’etchanan beginnt mit der erneuten Bitte von Mosche, doch noch das Land betreten zu dürfen. Aber auch diesmal wird sie abgelehnt. Mosche ermahnt die Israeliten, die Tora zu beachten. Erneut warnt er vor Götzendienst und nennt die Gebote der Zufluchtsstädte. Ebenso wiederholt werden die Zehn Gebote. Dann folgt das Schma Jisrael, und dem Volk wird aufgetragen, aus Liebe zu G’tt die Gebote einzuhalten und die Tora zu beachten. Den Abschluss bildet die Aufforderung, die Kanaaniter und ihre Götzen aus dem Land zu vertreiben.
5. Buch Mose 3,23 – 7,11

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