»Rising Lion«

Eine Löwin erhebt sich

Foto: picture alliance / imageBROKER

»Rising Lion«

Eine Löwin erhebt sich

Israels Militäroperation gegen den Iran trägt einen biblischen Namen. Was bedeutet er?

von Rabbiner Raphael Evers  27.06.2025 10:49 Uhr

Am Donnerstag vor dem Angriff auf Irans Atomanlagen besuchte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Kotel, die Klagemauer in Jerusalem, und hinterließ dort eine handschriftliche Notiz zwischen den alten Steinen. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch kaum ein Israeli, was dieses Ritual bald bedeuten würde.

Wie sein Büro später bekannt gab, hatte Netanjahu auf den Zettel ein Zitat aus dem Tanach geschrieben: »Das Volk wird sich erheben wie eine Löwin.« Derselbe Vers inspirierte den Namen der israelischen Operation, die am Tag darauf beginnen sollte: »Rising Lion«. Der hebräische Name »Am KeLavi jakum« resoniert bei religiösen Israelis. Im 4. Buch Mose 23,24 sagt der Prophet Bileam – ironischerweise ein Feind Israels – unter gʼttlichem Zwang: »Siehe, ein Volk steht auf wie eine junge Löwin und erhebt sich wie ein Löwe; es legt sich nicht nieder, bevor es seine Beute verzehrt …«

Notiz in der Kotel von Benjamin NetanjahuFoto: picture alliance / Anadolu

Bileam spricht in diesem Zusammenhang vom unvergänglichen Wesen des jüdischen Volkes – physisch, aber vor allem auch moralisch und geistig. Der Löwe ist im Tanach ein doppeldeutiges Symbol: einerseits furchteinflößend und mächtig, andererseits treu, königlich und standhaft.

Der Löwe erscheint auch an anderer Stelle der Tora als Symbol für Jehuda – den Stamm, aus dem König David hervorging. »Ein junger Löwe ist Jehuda«, sagt Jakow, unser dritter Erzvater (1. Buch Mose 49,9). Aus diesem Stamm wird letztlich auch der Maschiach kommen. Israel als »Ari« – Löwe – ist also nicht nur eine Metapher für militärische Stärke, sondern ein Sinnbild für eine höhere Mission: eine Nation, die aufsteht, um zu beschützen, zu überleben – und vor allem, um Licht zu bringen.

»Ein junger Löwe ist Jehuda«, sagt Jakow, in Genesis. Aus diesem Stamm wird letztlich auch der Maschiach kommen.

Zurück zum Tanach: Der Löwe, der aufsteht, so sagt es Bileam, legt sich nicht nieder, bevor er seinen Auftrag erfüllt hat. Für uns bedeutet das: sich nicht mit körperlicher Sicherheit zufriedenzugeben. Wir müssen uns auch geistig erheben. Wenn G’tt uns rettet, dann nicht nur aus Gnade – sondern auch, weil Er uns einen Auftrag gibt: Seid ein Licht für die Völker, ein moralisches Leuchtfeuer in einer oft chaotischen Welt.

Der Hüter Israels schlummert und schläft nicht

Warum sollen wir gerade jetzt dankbar sein? Als Antwort auf Israels Präventivschlag ging ein Raketenregen auf uns nieder, unzählige tödliche Geschosse aus dem Iran. Und dennoch, wie durch ein Wunder, blieb der Großteil ohne ernsthaften Schaden. Nicht nur wegen der Arrow-Abwehrraketen, nicht nur dank Verbündeter wie den USA – sondern, so glauben wir, vor allem durch den Hüter Israels, der nicht schlummert und nicht schläft (Psalm 121).

Wir dürfen nicht vergessen, G’tt aus tiefster Überzeugung zu danken, in dem Bewusstsein, dass Rettung nie selbstverständlich ist. Rabbi Saadia Gaon (882–942) schrieb bereits im 10. Jahrhundert, dass das jüdische Volk nur durch seine Tora ein Volk ist. Darin liegt auch unsere Kraft, Wunder zu erkennen – selbst wenn sie sich hinter natürlichen Ereignissen verbergen: Der Midrasch lehrt, dass selbst weltliche Dinge wie eine gute Ernte Anlass zum Lobpreis sind, wie viel mehr also der Schutz vor einem unsichtbaren Regen der Gewalt! Laut dem Talmud (Berachot 54a) ist jeder, der ein Wunder erlebt, verpflichtet, einen Segensspruch zu sprechen: »Gesegnet sei G’tt, der uns Wunder tut.« Dieser Segen gilt erst recht, wenn wir kollektiv der Vernichtung entkommen sind.

Dankbarkeit bringt auch Verantwortung mit sich. Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) erklärt, dass die Anerkennung der gʼttlichen Führung bedeutet, auch entsprechend zu handeln: mit mehr Gerechtigkeit, mehr Liebe, Chessed, und mehr Einsatz für jüdische Einheit.

Der Angriff auf den Iran war in den Augen vieler Israelis und auch in meinen ein Akt der Selbstverteidigung. In der Hilfe, die wir erhielten, sehen wir die Hand G’ttes. »Der Löwe, der aufsteht« erinnert uns an G’ttes Prophezeiung an Bileam. Es ist die Wahrheit, die sogar aus dem Mund eines Feindes hervorbricht. Das jüdische Volk erhebt sich wie eine junge Löwin, erfüllt vom Bewusstsein, dass der wahre Schutzschild nicht aus Metall besteht, sondern aus unserem Glauben.

Spurensuche

Von Moses zu Moses zu Reuven

Vor 75 Jahren starb Rabbiner Reuven Agushewitz. Er verfasste religionsphilosophische Abhandlungen mit einer Intensität, die an Maimonides und Moses Mendelssohn erinnert. Wer war dieser Mann?

von Richard Blättel  13.11.2025

Wajera

Awrahams Vermächtnis

Was wir vom biblischen Patriarchen über die Heiligkeit des Lebens lernen können

von Rabbiner Avraham Radbil  07.11.2025

Talmudisches

Rabbi Meirs Befürchtung

Über die falsche Annahme, die Brachot, die vor und nach der Lesung gesprochen werden, stünden im Text der Tora

von Yizhak Ahren  07.11.2025

Festakt

Ministerin Prien: Frauen in religiösen Ämtern sind wichtiges Vorbild

In Berlin sind zwei neue Rabbinerinnen ordiniert worden

 06.11.2025

Chassidismus

Im Sturm der Datenflut

Was schon Rabbi Nachman über Künstliche Intelligenz wusste

von Rabbiner David Kraus  06.11.2025

Rezension

Orthodoxer Rebell

Sein Denken war so radikal, dass seine Werke nur zensiert erschienen: Ein neues Buch widmet sich den Thesen von Rabbiner Kook

von Rabbiner Igor Mendel  06.11.2025

Potsdam

Abraham-Geiger-Kolleg ordiniert zwei Rabbinerinnen

In Deutschlands größter Synagoge Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg werden an diesem Donnerstag zwei Rabbinerinnen ordiniert. Zu der Feier wird auch Polit-Prominenz erwartet

 05.11.2025

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025