Talmudisches

Selbstmord oder Selbsttötung?

Nach der Halacha muss die Selbsttötung »laDaat«, also freiverantwortlich, absichtlich und in voller Zurechnungsfähigkeit ausgeführt werden, um darin das für den Selbstmord entscheidende Kriterium der Auflehnung gegen Gott erkennen zu können.

Talmudisches

Selbstmord oder Selbsttötung?

Wann dem Toten die Trauerbräuche nicht vorenthalten werden dürfen

von Stephan Probst  08.01.2018 15:51 Uhr

Obwohl der »Selbstmord« im Judentum absolut verpönt ist, kann man im Talmud zahlreiche Berichte über Suizide und Suizidversuche finden, bei denen weder diejenigen, die sich selbst töten, noch die Handlung oder Absicht der Selbsttötung verurteilt werden.

So wird von zwei römischen Soldaten berichtet, die sich aus Reue das Leben nehmen und sich dadurch sogar einen Platz in der kommenden Welt verdienen. Einer ist der Exekutor des Rabbi Chanina ben Teradyon (Avoda Sara 18a), der zweite ist ein römischer Soldat, der Rabbi Gamliel zu seiner Hinrichtung abführen soll, dies aber durch seinen Suizid vereitelt (Taanit 29a).

Suizid Beklemmend ist die Schilderung des kollektiven Suizids von 400 Jungen und Mädchen, die die Römer zur Zwangsprostitution nach Rom verschleppen wollten. Bei der Überfahrt nach Rom sprangen sie über Bord. Indem sie sich im Meer ertränkten, entgingen sie einem schrecklichen Schicksal (Gittin 57b).

Rabbi Akiva erzählt mit viel Verständnis und ohne Verurteilung vom Schicksal eines Schülers, der vor dem Aufsuchen der Toilette seine Tefillin abnahm und draußen ablegte. Von dort entwendete eine Prostituierte die Tefillin. Mit dem Diebesgut stellte sie ihn öffentlich bloß und behauptete, er habe ihr die Tefillin als Bezahlung überlassen. Vor lauter Scham und im Glauben, er würde die Lüge der Prostituierten nie aufdecken können, stieg der verzweifelte Schüler auf ein Dach und stürzte sich in den Tod (Berachot 23a).

Mehr als nur verzweifelt war der Textilwäscher, der erfuhr, dass alle, die bei Rabbi Jehuda HaNassis Tod anwesend waren, sich einen Platz in der künftigen Welt verdient hätten. Er, der sonst regelmäßig den Rabbi besuchte, war ausgerechnet in dessen Todesstunde nicht dort. Darüber wurde er wahnsinnig und stürzte sich von einem Dach. Eine Hallstimme aus dem Himmel verkündete, dass auch er sich nun seinen Teil in der kommenden Welt verdient habe (Ketubot 103b).

Halacha Wir finden in der rabbinischen Literatur zahlreiche weitere Schilderungen voller Empathie und mindestens Verständnis für die Opfer von Selbsttötungen. In all diesen Fällen liegen keine Selbstmorde im halachischen Sinne vor. Nach der Halacha muss die Selbsttötung »laDaat«, also freiverantwortlich, absichtlich und in voller Zurechnungsfähigkeit ausgeführt werden, um darin das für den Selbstmord entscheidende Kriterium der Auflehnung gegen Gott erkennen zu können.

Ohne die Vorankündigung vor Zeugen und ohne Klarheit über die bewusste und vorsätzliche Auflehnung gegen Gott darf kein Selbstmord angenommen und dürfen Trauerbräuche nicht verwehrt werden (Jore Dea 345,2 und Mischne Tora Avel 1,11).

Im extrakanonischen Traktat Semachot wird Rabbi Akiva zitiert: In Bnei Brak hatte ein Junge ein wertvolles Glas zerbrochen. Aus Angst vor der Strafe des Vaters hatte er sich in einen Brunnen gestürzt und sich so das Leben genommen. Rabbi Akiva erklärte, dass hier kein Selbstmord vorliegt und daher dem Toten die Ehre der Trauerbräuche auf keinen Fall vorenthalten werden dürfe (Semachot 2,5).

Weder der bestohlene Student noch der Textilwäscher oder der Junge, der die Strafe seines Vaters fürchtete, töteten sich freiverantwortlich oder vorsätzlich. Nach Einschätzung unserer Weisen geschehen Selbsttötungen aus Angst vor Folter, Entwürdigung und Qual, in psychischer Not oder bei intellektuell und geistig nicht voll zurechnungsfähigen Menschen nie »laDaat«. Beim geringsten Zweifel am freien Willen darf nicht von Selbstmord ausgegangen und dürfen die Trauerriten nicht verwehrt werden.

Der Autor ist Palliativmediziner am Klinikum Bielefeld und Mitglied der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld »Beit Tikwa«.

Sukka

Gleich gʼttlich, gleich würdig

Warum nach dem Talmud Frauen in der Laubhütte sitzen und Segen sprechen dürfen, es aber nicht müssen

von Yizhak Ahren  06.10.2025

Chol Hamo’ed Sukkot

Dankbarkeit ohne Illusionen

Wir wissen, dass nichts von Dauer ist. Genau darin liegt die Kraft, alles zu feiern

von Rabbiner Joel Berger  06.10.2025

Tradition

Geborgen unter den Sternen

Mit dem Bau einer Sukka machen wir uns als Juden sichtbar. Umso wichtiger ist es, dass wir unseren Nachbarn erklären können, was uns die Laubhütte bedeutet

von Chajm Guski  06.10.2025

Sukkot

Fest des Vertrauens

Die Geschichte des Laubhüttenfestes zeigt, dass wir auf unserem ungewissen Weg Zuversicht brauchen

von Rabbinerin Yael Deusel  06.10.2025

Sarah Serebrinski

Sukkot: Freude trotz Verletzlichkeit

Viele Juden fragen sich: Ist es sicher, eine Sukka sichtbar im eigenen Vorgarten zu bauen? Doch genau darin – in der Unsicherheit – liegt die Botschaft von Sukkot

von Sarah Serebrinski  05.10.2025

7. Oktober

Ein Riss in der Schale

Wie Simchat Tora 2023 das Leben von Jüdinnen und Juden verändert hat

von Nicole Dreyfus  05.10.2025

Übergang

Alles zu jeder Zeit

Worauf es in den vier Tagen zwischen Jom Kippur und Sukkot ankommt

von Vyacheslav Dobrovych  03.10.2025

Kirche

EKD: Gaza-Krieg nicht zum Anlass für Ausgrenzung nehmen

Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs: »Offene und gewaltsame Formen des Antisemitismus, besonders in Gestalt israelbezogener Judenfeindschaft, treten deutlich zutage«

 03.10.2025

Ha’asinu

Mit innerer Harmonie

Nur wer sich selbst wertschätzt und seine Fähigkeiten kennt, kann wirklich wachsen

von Abraham Frenkel  03.10.2025