Der Abschnitt Ki Tissa schildert mit der Herstellung des Goldenen Kalbs eines der einschneidendsten Ereignisse in der jüdischen Geschichte. Wir sehen hier ein sündhaftes Vergehen gegen das erste Gebot. Die daran Beteiligten befanden sich auf einem einzigartig hohen spirituellen Niveau. Sie hatten die Spaltung des Roten Meers, den Untergang der Ägypter und die Offenbarung Gottes auf dem Sinai erlebt. Sie hörten Gott sprechen: »Ich bin der Ewige, dein Gott, der Ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe« (2. Buch Mose 20,2).
Im Vergleich zur Wüstengeneration kann man uns Heutige als kleingläubig einstufen. Zudem müssen wir uns fragen, ob wir überhaupt das Recht haben, ein Urteil über diese Generation zu fällen. So weist uns ein Kommentar aus dem Talmud in die Schranken. Es heißt da: Wollten wir uns zum Richter über die Wüstengeneration erheben, so würde hier – im Bild gesprochen – ein Esel einen Menschen beurteilen wollen. Kann aber ein Esel einen Menschen beurteilen (Traktat Schabbat 112)?
Situation Wie kann es sein, dass sich ausgerechnet jene Generation derart gegen Gott vergangen hat? Das Volk lebte in der Wüste in einer Atmosphäre der Wunder, umgeben von der Wolkensäule Gottes, und es empfing Speise aus dem Himmel. Ausgerechnet in einer solchen ganz offensichtlich von Gott begleiteten Lebenssituation erschuf sich das Volk ein goldenes Kalb und rief: »Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat« (2. Buch Mose 32,4). Drei Monate nach dem Auszug aus Ägypten und sechs Wochen nach der Offenbarung auf dem Berg Sinai hatten die Kinder Israels gehört: »Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft« (5. Buch Mose 5,6) – und kurz darauf zeigen ihre Finger auf das Goldene Kalb.
Wenn wir uns tiefer in diesen Vorfall hineindenken, dann fällt uns eine Ungereimtheit auf. Die vor dem Goldenen Kalb Versammelten sagten nämlich: »Das ist dein Gott, Israel, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat« (2. Buch Mose 32,4). Man erwartet eigentlich, dass sie in der ersten Person plural gesagt hätten: »Das ist unser Gott, Israel, der uns herausgeführt hat.«
Für Raschi (1040–1105) ist diese Ungereimtheit ein Beleg dafür, dass es nicht die Kinder Israels waren, die das Goldene Kalb geschaffen haben. Er weist auf »Erev rav« (2. Buch Mose 12,38) – Angehörige fremder Völker – hin, die sich dem Volk Israel bei seinem Exodus angeschlossen und sich mit ihm vermischt hatten. Sie seien es gewesen, die Aharon unter Druck setzten, das Kalb anfertigen zu lassen. Und nach seiner Fertigstellung waren sie es, die erklärten: »Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat« (2. Buch Mose 32,4).
Offensichtlich war es so, dass sich die Kinder Israels diesem Einfluss, den »Erev rav« auf sie ausübte, nicht wirklich widersetzten. Das Volk war durch Mosches 40-tägige Abwesenheit mürbe und müde geworden, da ergriffen die mitwandernden Begleiter Israels die Initiative zur Herstellung des Kalbs.
Führung Zu dieser These Raschis erklärt Rabbi Chaim Shmuelevitz (1902–1979) in seinem Buch Sichot Mussar (Ethische Diskurse): Ein Mensch kann die Führung Gottes in seinem Leben erfahren, aber das wird ihn nicht prägen. Sein inneres Wesen bleibt davon unberührt. Warum ist das so? Weil der Mensch selbst keine Aktivität entwickelt hat, diese Erlebnisse anzustreben. Erev rav haben die Wunder und Führungen, die Gott den Israeliten widerfahren ließ, schlicht und einfach aus der Zuschauerperspektive wahrgenommen und sich von den Ereignissen mitnehmen lassen.
Wenn aber der Mensch mit eigener spiritueller Kraft versucht, Gottes Wege zu entdecken, dabei auf Schwierigkeiten stößt und mit Herausforderungen konfrontiert wird, dann wird sich ihm die erarbeitete Gotteserfahrung verinnerlichen und ein Teil von ihm werden.
Demgegenüber haben die Erev rav keinerlei Erprobung ihres Glaubens durchgemacht, sie haben alles, ohne eigene Anstrengung, »bloß mitgenommen«. Und dann trifft zu: Was man mit Leichtigkeit erreicht hat, verlässt einen auch wieder leicht – eine Erkenntnis, die auf alle Bereiche des Lebens zutrifft.
missverständnis Man fragt sich, wie das Volk Israel dazu überredet werden konnte, das Kalb herzustellen. Rabbi Shmuelevitz deckt ein Missverständnis zwischen Mosche und den Kindern Israels auf. Mosche kündigte ihnen an, dass er für 40 Tage und Nächte auf den Berg Sinai steigen werde. Das Volk ließ diesen Zeitraum mit dem ersten Tag seiner Abwesenheit beginnen – Mosche aber begann die Tage seiner Abwesenheit erst zu zählen, nachdem er den Gipfel des Horeb erreicht hatte.
Zu diesem Missverständnis kommentiert der Talmud (Traktat Schabbat 89): Der Satan nutzte diese Unstimmigkeit zwischen Mosche und den Kindern Israels aus, indem er ihnen einredete, Mosche sei tot. Zunächst blieb das Volk standhaft und glaubte dem Versucher nicht. Doch der legte nach und zauberte ihnen eine Figur vor Augen, in der sie Mosche zu erkennen glaubten, wie er himmelwärts getragen wurde. Da war es um ihren Widerstand geschehen, und die Kinder Israels gingen davon aus, dass sie ihren bewährten Anführer nicht mehr wiedersehen würden. In diesem personellen Vakuum liegt der Ursprung für die Sünde Israels, indem es daranging, bei der Herstellung des Goldenen Kalbes mitzuwirken.
Der Autor war bis 2011 Landesrabbiner von Sachsen.
Inhalt
Zu Beginn des Wochenabschnitts Ki Tissa wird Mosche damit beauftragt, die wehrfähigen Männer zu zählen. Es folgen Anordnungen für das Stiftszelt. Die Gesetze des Schabbats werden mitgeteilt, und es wird die Bedeutung des Ruhetags als Bund zwischen Gott und Israel betont. Der Ewige gibt Mosche zwei Steintafeln, mit denen er ins Lager der Israeliten zurückkehrt. Dort haben sich die Wartenden in der Zwischenzeit ein Goldenes Kalb gegossen, dem sie Opfer darbringen. Im Zorn darüber zerbricht Mosche die Steintafeln, und der Ewige bestraft die Israeliten mit einer Plage. Später steigt Mosche auf den Berg und erhält neue Bundestafeln.
2. Buch Mose 30,11 – 34,35