Verschwörungstheorien

Säkularisierte Mythen

Wie religiös geprägte Vorurteile aus dem Mittelalter bis heute nachwirken

von Alfred Bodenheimer  27.01.2023 12:34 Uhr

Register des Bankhauses der Medici in Florenz mit Goldmünzen, 15. Jahrhundert Foto: picture-alliance / akg-images / Erich Lessing

Wie religiös geprägte Vorurteile aus dem Mittelalter bis heute nachwirken

von Alfred Bodenheimer  27.01.2023 12:34 Uhr

Wir kennen die Erklärung bis zum Abwinken: Weil den Juden im Hochmittelalter in Europa Landbesitz und die meisten anderen Erwerbszweige verboten gewesen seien, hätten sie sich auf den Geldhandel konzentriert, da das christliche Zinsverbot für sie nicht galt. Kurzum: Es sei die pure Not gewesen, die Juden in dieses Metier trieb.

Doch das habe dazu geführt, dass die Menschen, die unter dem Zinsendienst ächzten, zwangsläufig Juden mit Schlauheit in Geschäftsdingen wie aber vor allem auch Geldgier in Verbindung brachten – und bis heute seien Verschwörungstheorien gegen die »Rothschilds« oder die Umschreibung der »Banker von der amerikanischen Ostküste« von dieser unseligen historischen Grundlage, die mit dem Charakter der Juden gar nichts zu tun habe, infiziert.

Bis heute geht niemand davon aus, dass es aus der Lombardei gesteuerte Machenschaften gibt.

Eine Erklärung, die nichts erklärt. Denn nebst den Juden waren im mitteleuropäischen Raum des Hochmittelalters die Italiener (damals allgemein Lombarden genannt) mindestens ebenso im Bankwesen engagiert, sie gelten als dessen eigentliche Erfinder.

Über das Zinsverbot sahen sie hinweg, und die sogenannten kurzfristigen »Lombardenzinsen« (bis heute im Lombardsatz für Banken anklingend) zeichneten sich gerade durch ihre exorbitante Höhe aus. Dennoch geht heute niemand davon aus, dass es aus der Lombardei gesteuerte Machenschaften gibt, die das Finanzsystem in Krisen, Völker in Kriege oder Bevölkerungen durch Seuchen in Panik stürzen, um daraus Profit und Macht zu ziehen – sämtlich Dinge, die der »jüdischen Finanzmacht« dauernd unterstellt werden.

OURSOURCING Es ist also komplizierter. Das Verdrängen der Juden in den mittelalterlichen Finanzhandel kam einerseits christlichen Gesellschaften als »Outsourcing« der sündigen, aber wirtschaftlich unverzichtbaren Kreditwirtschaft entgegen, ließ sich aber zugleich mit einem Stigma der Christen- und eigentlich Gottesfeindschaft verbinden, das den Juden als angeblichen Christusmördern ohnehin anhing.

Das Absaugen des Geldes von ihren christlichen Schuldnern erschien hier also lediglich als Variante des Blutdurstes, den laut den Evangelien schon die (zu unzerstörbaren und ewigen Stereotypen verfestigten) Juden, die Jesus ans Kreuz geliefert haben sollten, bezeugt hatten.

Es gehörte also zum kulturellen »Wissen« christlich sozialisierter Gesellschaften, dass die Gier der Juden nicht nur Teil ihres Wesens sei, sondern auch unmittelbar die Demontage und Beherrschung der Gesamtgesellschaft zum Ziel habe, ja, dass dieses Ziel dem der eigenen Bereicherung übergeordnet sei. Dieses Wissen hat sich problemlos – etwa in Form der Protokolle der Weisen von Zion – in die Säkularisierung transportieren und damit auch global in außerchristlichen Kontexten wie etwa modernen muslimischen Gesellschaften verbreiten lassen.

COVID-19 Die Bedeutung von solchem kulturell und über Generationen verankerten Wissen, das über empirischen Nachweistechniken zu stehen scheint, wird erst ersichtlich, wenn klar wird, wie fragil das, was wir Wissen nennen, überhaupt ist. Nehmen wir die Frage nach dem Ursprung des Covid-19-Virus: Als 2020 die weithin anerkannte Feststellung, er sei über einen Tiermarkt in Wuhan auf Menschen übertragen worden, erstmals infrage gestellt und eine Laborpanne in China als möglicher Ursprung genannt wurde, war von Verschwörungstheorien die Rede.

Inzwischen wird die Frage nach der Herkunft des Virus in der Forschung ziemlich offen und oft ohne klare Festlegung auf die eine oder andere Version diskutiert und zugleich durch die Intransparenz chinesischer Informationspolitik auch verschleiert. Wenn aber hier, was zunächst von der Wissenschaft klar hergeleitet wurde, plötzlich zweifelhaft erscheint, warum soll das in anderen Fällen anders sein? Ist jeder, der von Politik und Leitmedien vertretene Befunde anzweifelt, ein Verschwörungstheoretiker?

Der in Erfurt lehrende Philosoph Karl Hepfer hat in seinem Buch über Verschwörungstheorien gezeigt, wie schwierig es ist, Wahrheit als verbindliche Grundlage des Wissens abzusichern gegen den eigentlich ja in aufgeklärten Gesellschaften auch zu fördernden Zweifel.

PLAUSIBILITÄT Für Hepfer liegt das Kriterium zwischen gesundem Zweifel und Verschwörungstheorie letztlich in der Plausibilität: »Die Stärkung der Unabhängigkeit und Selbständigkeit, die sich die großen Denker der Aufklärung von der Vernunftorientierung erhofften, verkehrt sich in ihr Gegenteil«, nämlich in die wahnhafte Überzeugung, grundsätzlich immer planvoll beschädigt werden zu sollen.

Publizisten wie der bei Verschwörungstheoretikern beliebte Daniele Ganser spielen geschickt mit dem scheinbar aufklärerischen Gestus. Sie säen Zweifel an anerkannten historischen Tatsachen, wissend, dass dies allein reicht, um bei ihrem Publikum den Reflex auszulösen, ein eingepflanztes – und, wie Hepfer zeigt, absurderweise in sich nie hinterfragtes – »Vorwissen« zu aktivieren. Wer die US-Regierung und »dahinterstehende Mächte« für den Ursprung allen Übels hält, dem genügen einige kritische Anfragen an die Nachweisbarkeit von deren Version der Anschläge vom 11. September 2001, um sie für die wahren Urheber zu halten.

Wenn der Fatalismus durchbrochen wird, wird der nihilistische Abgrund sichtbar.

Damit aber werden Verschwörungstheorien zirkulär. Wer anscheinend immer mehr wahre Gründe über Vorgänge erfährt, indem immer dieselbe Überzeugung ohne Differenzierungen genährt wird, dem geschieht das Gegenteil von Aufklärung. Er wird zum Mastbetrieb seiner eigenen selbstverschuldeten Unmündigkeit. Und vor allem: Er wird aufgrund seiner analytischen Blockade nie imstande sein, irgendein reales Problem dort zu lösen, wo es begraben liegt. Und wird sich bei jedem neuen Problem noch mehr in seinen Vorstellungen bestätigt fühlen.

Denn Verschwörungstheoretiker sind in ihrer Essenz fatalistisch, sie feiern ihre eigene Machtlosigkeit. Und wenn dieser Fatalismus einmal durchbrochen wird, wie beim norwegischen Massenmörder Anders Breivik und bei den Tätern vom Bataclan in Paris oder bei der Synagoge von Halle, dann wird dahinter der nihilistische Abgrund erkennbar.
Und wie können wir solches verhindern? In manchen Fällen nur mit dem Verfassungsschutz. Und bei unseren Kindern, indem wir mit ihnen sprechen, sie alles fragen lassen – und nicht vorgeben, für alles eine Antwort zu haben.

Der Autor ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel.

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