Debatte

Mit Kippa, immer und überall?

PRO
Wenn ich auf den Straßen von Dortmund unterwegs bin und dabei wie gewöhnlich meine Kippa trage, werde ich oft von Nichtjuden angehalten. Sie grüßen mich auf Hebräisch mit »Schalom«, und sie alle vermitteln mir die gleiche Botschaft: »Fürchtet euch nicht – es gibt keinen Grund, sich zu verstecken!« Und wenn ich andere Juden treffe, dann gibt meine Kippa ihnen sofort einen Grund zum Stolz, zur Freude und zur Identifikation mit ihrem eigenen Judentum.

In der Vergangenheit gab es Juden in Deutschland, die sich das Motto zu eigen machten: »Sei Jude in deinem eigenen Haus, aber wenn du das Haus verlässt, sei ein Deutscher.« Im Deutschland des 21. Jahrhunderts hat diese Einstellung ihre Gültigkeit verloren. Jeder Mensch hat das Recht, sein Leben so zu leben und das auch öffentlich zu zeigen, auf welche Art und Weise er es möchte, solange er das Recht jedes Mitbürgers achtet, seinen Glauben zu praktizieren, und keinen Druck oder Zwang auf andere ausübt.

In der heutigen Zeit ist die Kippa zu einem Symbol für das jüdische Volk geworden, zu einem Erkennungszeichen unter Juden. An der Art der Kippa können wir erkennen, zu welcher jüdischen Gruppierung ein Mensch gehört oder gehören möchte.

Die Kippa der Orthodoxen ist schwarz, die Kippa der nationalreligiösen Zionisten gehäkelt, die Kippa eines Barmizwa-Jungen meist glänzend. Es gibt die Kippa der Breslawer Chassidim – und sogar eine Kippa-Variante für diejenigen Juden, die sich nicht eindeutig zu einer dieser Gruppierungen zählen. Am Eingang zur Kotel und in jeder Synagoge, bei der Barmizwa-Feier, bei einer Hochzeit oder bei einer Beerdigung werden Kippot an alle Teilnehmer verteilt, damit ihr Kopf aus Anlass des wichtigen Ereignisses bedeckt ist.

Die Debatte der vergangenen Wochen in Deutschland hat dazu geführt, dass viele Nichtjuden glauben, das Kippa-Tragen sei das wichtigste Gebot des Judentums. Aber stimmt das überhaupt?

Natürlich gibt es sehr viel essenziellere Wege, um unsere Treue gegenüber Gott zum Ausdruck zu bringen, als die Kippa zu tragen. Ein Mensch, der die Zizit (Schaufäden) anlegt, auch wenn sie den ganzen Tag unter seiner Kleidung verborgen sind und niemand sie sieht, erfüllt eine viel wichtigere Mizwa. In der Tora werden wir ausdrücklich dazu angehalten, die Zizit zu tragen. Von der Kippa hingegen ist in der Tora nicht die Rede.

Das Tragen einer Kippa ist vielmehr ein Brauch, der erst durch den Schulchan Aruch im 16. Jahrhundert zur Halacha wurde. Dort steht geschrieben, dass es verboten ist, vier Ellen (etwa zwei Meter) ohne Kopfbedeckung zu laufen. Im Talmud wird Rav Huna als erster Gelehrter erwähnt, dem die Kopfbedeckung ausgesprochen wichtig ist. Er begründet seine Haltung mit seiner Ehrfurcht vor Gott. Wer eine Kopfbedeckung trägt, so Rav Huna, lebt in dem Gefühl und dem Bewusstsein, dass es jemanden gibt, der über ihm steht.

Doch auch die Halacha ist sich durchaus der Probleme bewusst, die das Tragen einer Kippa im Alltag mit sich bringen kann. Ein Jude, der eine Anfrage an Rabbiner Moshe Feinstein stellte, ob er an seinem Arbeitsplatz eine Kippa tragen müsse, auch wenn ihm deswegen die Kündigung drohe, bekam zur Antwort: Wenn das eigene Einkommen durch die Kippa gefährdet ist, darf man bei der Arbeit auf sie verzichten.

In einer demokratischen Gesellschaft sollte die Achtung vor Angehörigen verschiedener Religionen und ihren Bräuchen ein Mindeststandard sein. Ich finde es interessant, dass gerade »einfache« Bürger diejenigen sind, die mir die Kraft geben, weiterzumachen und mit der Kippa auf dem Kopf an jeden Ort zu gehen. In vielen Straßen, Läden, Cafés und Museen – und übrigens auch an Tankstellen – bringen Menschen mir Achtung und Respekt entgegen, wenn sie mich mit der Kippa auf dem Kopf sehen.

Ich bin nicht naiv. Natürlich ist auch mir bewusst, dass es Straßen und Gegenden gibt, wo es besser ist, auf die eigene Sicherheit zu achten und einen Hut über der Kippa zu tragen. Doch wie definiert man »gefährliche Orte«? Sind denn nicht alle Straßen, alle Städte, alle Staaten auf der Welt potenziell gefährlich?

Vor drei Jahren hat die rechtsextreme französische Politikerin Marine Le Pen gefordert, das Tragen von Kopftüchern und der Kippa in Frankreich zu verbieten. Sie behauptete, für Juden bedeute eine solche Regelung keinen großen Verzicht. Ich sehe das anders. Die Kippa abzulegen, bedeutet, unsere jüdische Identität zu verstecken!

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund und Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz.

CONTRA
Plötzlich sind wir Juden »Mode« – und das im doppelten Sinn: Politiker und Kirchenvertreter möchten gerne, dass wir uns mit Kippa in der Öffentlichkeit präsentieren. Wir sollen nicht den Kopf einziehen, sondern unsere Köpfe mit einer Kippa bedecken und sie erhobenen Hauptes tragen.

Vielleicht bin ich ein bisschen zynisch, aber ich frage mich: Warum gerade jetzt? Jahrzehntelang haben Juden darüber geklagt, dass man sie beschimpft, ihre Synagogen bedroht, ihre Grabsteine und Denkmäler beschmiert oder umwirft. Warum ist es ausgerechnet in diesen Tagen so wichtig, dass Juden nicht nur in Deutschland, Schweden und Frankreich bleiben, anstatt auszuwandern, sondern dass sie auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen und erkannt werden?

Kann es sein, dass viele Nichtjuden plötzlich gemerkt haben, was es bedeutet, bedroht zu sein? Zahlreiche Juden, die an der Kippa oder aus anderen Gründen zu erkennen waren, sind in den vergangenen Monaten in deutschen Großstädten von Muslimen attackiert worden. Verstehen Christen nun, wie es sich anfühlt, von einer anderen religiösen und ethnischen Gruppe in die Ecke gedrängt zu werden – politisch, kulturell, demografisch?

Wenn hierzulande Tausende auf die Straße gehen, um gegen intolerante Versionen des Islam zu protestieren, hört man von vielen nur »Oj, die Islamisten sind antisemitisch!«, als ob das alle Probleme des radikalen Islam erklären würde. Worum geht es also? Wollen die Biodeutschen mit dem Problem einfach nicht alleine gelassen werden? Das wäre in der Tat zynisch – aber eine bessere Antwort habe ich noch nicht gefunden.

Wir sollen also »Präsenz zeigen«. Doch die Kopfbedeckung ist im Judentum kein religiöses Gesetz – also keine Halacha, sondern nur ein Brauch. Im Tanach, der Hebräischen Bibel, kommt die Kopfbedeckung kaum vor – und wenn doch, dann tendenziell eher als Zeichen der Trauer.

Im Talmudtraktat Moed Katan (15b) sollen Trauernde, Leprakranke und Ausgestoßene ihren Kopf bedecken, und im Traktat Schabbat (118a) beschrieb Rabbi Huna ben Joschua, wie er seinen Kopf bedeckte, als er mehr als vier Ellen lief – ein Hinweis darauf, dass diese Kopfbedeckung eine Ausnahme war. Von Kippot als solchen steht in den jüdischen Quellen nichts geschrieben.

Wie wir alle wissen, bedeckt eine Kippa den Kopf nicht vollständig. Sie ist im Alltag also völlig nutzlos, sie schützt nicht vor Wind oder Regen oder Sonne, sie hat nur symbolischen Wert. Schaut man alte Fotos aus dem 19. oder 20. Jahrhundert an, die in den Schtetln oder auch in Großstädten mit einer starken jüdischen Bevölkerung aufgenommen wurden, sieht man interessanterweise niemanden, der mit einer Kippa auf dem Kopf unterwegs war. Was wir sehen, sind ganz andere Kopfbedeckungen: Mützen, Hüte und Melonen.

Eine Kippa dient nur zu rituellen Zwecken – zum Beispiel beim Gottesdienst in der Synagoge. Man braucht aber keine Kippa, um den Nachbarn unter die Nase zu reiben, dass man Jude ist. Übrigens hat das Vierte Laterankonzil, einberufen von Papst Innozenz III., uns im Jahr 1215 vorgeschrieben, den »Judenhut« zu tragen, damit wir wie Sonderlinge aussehen. Aber wollen wir das denn?

Bei religiösen Juden in Israel hat sich die Kippa in den vergangenen Jahrzehnten zum jüdischen Kleidungsstück per se entwickelt, mehr noch als »Arba Kanfot«, die vier Enden der Zizit, und die große breite Arbeitermütze. Die Kippa wird überall im Heiligen Land getragen und transportiert unterschiedliche politische oder religiöse Botschaften, abhängig von Größe, Stil und Farbe. Doch wir in der Diaspora haben gelernt, »behutsam« oder anders gesagt, »auf der Hut« zu sein.

Einmal wurde ich von einem Fernsehteam gebeten, »etwas Jüdisches« zu tragen. Das Einzige, was mir dazu einfiel: Meine Unterhosen sind von Marks & Spencer, einer jüdischen Warenhauskette – zum Glück waren sie aber nicht im Bild zu sehen. Ein Jude ohne irgendeine Art von Hut ist für viele Nichtjuden offenbar kein richtiger Jude. Aber ist das unser Problem? Wenn wir im Alltag so »normal« wie möglich erscheinen wollen, warum sollten wir dann auf der Straße den Tallit Katan mit heraushängenden Zizit tragen – oder die Kippa aufsetzen?

Zuletzt: Warum reden wir in dieser Debatte eigentlich nur über Männer? Sollten jetzt alle jüdischen Frauen Perücke tragen, nach dem Motto: »Don’t be shy, try a Sheitel«? Und wenn wir schon dabei sind: Wann werden unsere Gemeindepolitiker endlich die Zivilcourage aufbringen, um offen zu sagen: Auch Frauen dürfen in der Synagoge eine Kippa tragen?

Der Autor ist Landesrabbiner von Schleswig-Holstein und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz.

Wajigasch

Mut und Hoffnung

Jakow gab seinen Nachkommen die Kraft, mit den Herausforderungen des Exils umzugehen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  19.12.2025

Mikez

Füreinander einstehen

Zwietracht bringt nichts Gutes. Doch vereint ist Israel unbesiegbar

von David Gavriel Ilishaev  19.12.2025

Meinung

Heute Juden, morgen Christen

»Judenhass führt konsequent zum Mord. Dafür darf es kein Alibi geben«, schreibt Rafael Seligmann

von Rafael Seligmann  19.12.2025

Chanukka

»Wegen einer Frau geschah das Wunder«

Zu den Helden der Makkabäer gehörten nicht nur tapfere Männer, sondern auch mutige Frauen

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  18.12.2025

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  18.12.2025

Chanukka

Berliner Chanukka-Licht entzündet: Selbstkritik und ein Versprechen

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin am Mittwoch mit viel Politprominenz das vierte Licht an Europas größtem Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet

von Markus Geiler  18.12.2025

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  15.12.2025